Forschungsthema Georgien

Georgien-Forschung am ZfL

Wo liegt Georgien? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Denn das Land zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer ist ein Grenzraum, dessen geopolitische Zugehörigkeit umstritten ist. Je nach Perspektive befindet er sich im Osten Europas oder im Süden Russlands – wobei sich über Jahrhunderte hinweg die Frage stellte, ob er schon jenseits oder noch innerhalb dieser politisch-geographischen Gebilde zu verorten sei. Diese prekäre Lage führte immer wieder zu offenen Konflikten wie zuletzt dem Krieg mit Russland im Jahr 2008. Sie drückt sich aber auch in zahlreichen Projektionen und Sehnsüchten, Imaginationen und kulturellen Topoi aus. Dazu gehören das Erbe der antiken Kolchis und das Fortleben der christlichen Orthodoxie, Rebellion und Gastfreundschaft, die Wildheit der Gebirge und die paradiesische Fülle der Obstgärten.

Am ZfL wird seit mehr als zehn Jahren die Kulturgeschichte Georgiens als Geschichte dieser Bilder und Topoi in ihrer immer neuen Aktualisierbarkeit erforscht. Dabei geht es weniger um eine chronologische Rekonstruktion der Landesgeschichte als vielmehr um die Analyse der einander überlagernden und überschreibenden Selbst- und Fremddeutungen. Georgien ist ein »kulturelles Palimpsest« – so die titelgebende Formulierung des ersten, 2006 gestarteten Projekts, seinerzeit eine von mehreren Fallstudien des Verbunds »Topographie pluraler Kulturen Europas«, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in der Förderinitiative »Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog« finanziert wurde. Auch die Folgevorhaben hatten das Ziel, zum besseren Verständnis aktueller gesellschaftlicher Probleme beizutragen. Dabei ist die Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Region, insbesondere mit Kolleginnen und Kollegen der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi, von besonderer Bedeutung.

Ausgangspunkt aller Projekte ist die jüngste Phase der Deutungsgeschichte ­Georgiens, die spannungsreiche Neuverortung nach dem Zerfall der Sowjetunion. Vor ­diesem Hintergrund wurden 2008–2010 die »Figurationen des Nationalen im Sowjetimperium« untersucht: die symbolischen Repräsentationsformen und die konkreten, oft gewaltsamen Praktiken, mit denen die UdSSR unter dem Georgier Stalin als Union ›brüderlich‹ verbundener Nationalitäten konstruiert wurde. Nicht zuletzt diese sowjetgeorgischen Figurationen leisteten dem neuen Nationalismus Vorschub, der im postsowjetischen Georgien aufkam und dort, wie auch in anderen ehemaligen Unionsrepubliken, bis heute virulent geblieben ist. Der Anspruch des Projekts war es, diese komplexen kulturellen Erbschaften angemessen zu beschreiben, was auch hieß, sie in ihrer fortgesetzten Wirksamkeit kritisch zu befragen.

Diese Art der Analyse bedarf einiger methodologischer Sorgfalt. Dafür steht das Instrument der ›kulturellen Semantik‹, mit dem die Folgeprojekte die Geschichte der Bedeutungen symbolischer und realer Räume erforschten. Der Fokus wurde dabei erweitert: von der »Kulturellen Semantik Georgiens zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer« (2012–2015) zur »Kulturellen Semantik der Schwarzmeerregion« (2014–2016) und zuletzt zur »Kulturellen Semantik des Schwarzen Meeres aus der Perspektive östlicher Hafenstädte« (2016–2018). Die Projekte, zwei davon gefördert im Schwerpunktprogramm »Zwischen Europa und Orient – Mittelasien/Kaukasus im Fokus der Wissenschaft« der VolkswagenStiftung, konnten nachweisen, wie sich rings um das Schwarze Meer die imperialen und postimperialen Begehrlichkeiten sowie die Codierungen von ›Orient‹ und ›Okzident‹ überlagern. Wie der Konflikt um die russische Annexion der Krim seit 2014 zeigt, sind diese kulturellen Räume nach wie vor nicht nur geopolitisch, sondern auch affektiv stark aufgeladen.

Verglichen mit den Spannungen in der Ukraine macht Georgien derzeit eher positive Schlagzeilen. Es ist Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und entwickelt sich zum gefragten Reiseziel, mit Tbilissi als Partystadt und »nächstes Berlin« (so Die Zeit am 5. Juli 2017). Internationale Handelsketten eröffnen ihre Flagship-Stores längst auch in der georgischen Hauptstadt. Man könnte annehmen – hoffnungsvoll oder bedauernd –, dass die West-Europäisierung unaufhaltsam voranschreitet. Das wird allerdings nichts an der konfliktträchtigen Lage Georgiens ändern, und auch die grundlegenden historischen Spannungen lassen sich auf diese Weise nicht zum Verschwinden bringen. Sie zu erforschen bleibt daher auch in Zukunft ein wichtiges Unterfangen.

Stefan Willer

Forschungsprojekte des ZfL zu Georgien und der Schwarzmeerregion

2006–2009 Georgien als Grenzraum und kulturelles Palimpsest*

2008–2010 Aporien forcierter Modernisierung. Figurationen des Nationalen im Sowjetimperium*

2011–2013 Das europäische Subjekt und der ›Homo sovieticus‹*

2012–2015 Kulturelle Semantik Georgiens zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer**

2014–2016 Kulturelle Semantik der Schwarzmeerregion*

2016–2019 Batumi, Odessa, Trabzon. Kulturelle Semantik des Schwarzen Meeres aus der Perspektive östlicher Hafenstädte* / **

2020–2022 Literatur in Georgien. Zwischen kleiner Literatur und Weltliteratur***


* gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
** gefördert mit Mitteln der VolkswagenStiftung
*** gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Publikationen

Zaal Andronikashvili, Susanne Frank, Giorgi Maisuradze, Franziska Thun-Hohenstein, Stefan Willer

Freundschaft
Konzepte und Praktiken in der Sowjetunion und im kulturellen Vergleich

Interjekte 2, 2011, 47 Seiten
DOI: 10.13151/IJ.2011.02
Zaal Andronikashvili, Sigrid Weigel (Hg.)

Grundordnungen
Geographie, Religion und Gesetz

LiteraturForschung Bd. 14
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2013, 284 Seiten
 
Zaal Andronikashvili, Tatjana Petzer, Andreas Pflitsch, Martin Treml (Hg.)

Die Ordnung pluraler Kulturen
Figurationen europäischer Kulturgeschichte, vom Osten her gesehen

LiteraturForschung Bd. 13
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2014, 357 Seiten
 
Franziska Thun-Hohenstein, Giorgi Maisuradze

Sonniges Georgien
Figuren des Nationalen im Sowjetimperium

LiteraturForschung Bd. 24
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015, 376 Seiten
 
 
 
Zaal Andronikashvili, Giorgi Maisuradze, Matthias Schwartz, Franziska Thun-Hohenstein (Hg.)

Kulturheros
Genealogien. Konstellationen. Praktiken

LiteraturForschung Bd. 28
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2017, 644 Seiten
 
Manfred Sapper, Volker Weichsel, Zaal Andronikashvili (Hg.)

Traumland Georgien
Deutungen zu Kultur und Politik

Zeitschrift Osteuropa 7/2018
Berlin 2018, 144 Seiten
 
Zaal Andronikashvili, Emzar Jgerenaia, Franziska Thun-Hohenstein

Landna(h)me Georgien
Studien zur kulturellen Semantik

LiteraturForschung Bd. 33
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2018, 460 Seiten
 

 

Abb. oben: Literaturmuseum Tbilissi, © Klaus G. Schmidt