Ost-westliche Affektkulturen

Das Projekt zielte auf eine Neubefragung kulturell spezifischer Affektmodi im Kontext einer Globalisierung aller Lebensbereiche. Erst in der Konfrontation mit den globalisierten »westlichen« Alltagsmythen und populärkulturellen Identifikationsangeboten der Gegenwart konstituieren sich die kulturellen Spezifika lokaler Selbstverortungen und ihr national-religiöses Pathos. Aus der Perspektive der osteuropäischen »Ränder«, gerade nach dem Zerfall der Sowjetunion, sind verschiedene affektive Bindungen an Rituale, Institutionen oder Ordnungen (Nostalgie, Phobien, Trauer, imperiale bzw. antiimperiale Affekte) sichtbar geworden, in die tradierte ältere vorrevolutionäre und realsozialistische symbolische Besetzungen eingeschrieben sind.

In dem Projekt wurden künstlerische Werke (Literatur, Theater, Film) aus Polen, Russland und der Ukraine exemplarisch untersucht, um die vielfältigen Aktualisierungen von Affektmodi in der Gegenwart differenzierter benennen zu können. National-katholische »romantische« Symbol-Setzungen in Abgrenzung zu imperialen und kommunistischen Besatzungsregimen in Polen oder die verstärkte Aktualisierung russisch-orthodoxer und retrosowjetischer Gesten in Russland entwickeln, so die These, erst in der Gegenüberstellung mit vermeintlich »fremden« Kulturmodellen und künstlerischen Praktiken ihre faszinationsgeschichtliche Brisanz. So »exhumiert« beispielsweise das Gegenwartstheater Paweł Demirskis Adam Mickiewiczs Nationalepos Ahnenfeier (Dziady), dessen Helden angesichts globalisierter Alltagswelten alle religiösen Bindungen und kulturellen Orientierungen abhanden gekommen sind (siehe Abb.).

Oder Serhij Zhadan stellt in seinem Roman Anarchy in the UKR den heroischen Denkmälern der Roten Armee die Suche nach den anarchischen Spuren der Machno-Bewegung, den tristen Ruinen der sowjetischen Nachkriegsmoderne die tragischen Biographien ihrer Bewohner und dem Pathos der Orangenen Revolution die rebellischen Distinktionsgesten westlicher Rock- und Punkmusik entgegen, um so die Pathosformeln des Freiheitskampfes bloßzulegen (siehe Abb.).

Solche künstlerischen Auseinandersetzungen mit besonders symbolträchtigen und affektbeladenen Gesten kollektiver oder individueller Zugehörigkeit wurden danach befragt, welche unerledigten historischen Konflikte und problematischen (religiös-)kulturellen Erbschaften in ihnen tradiert und aktualisiert werden.

 

Cover: Anarchy in the UKR von Serhij Zhadan

Programmförderung Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2014–2016

Publikationen

Matthias Schwartz, Heike Winkel (Hg.)

Eastern European Youth Cultures in a Global Context

Palgrave Mcmillan, London et al. 2016, 374 Seiten
ISBN 978-1-137-38512-3

Matthias Schwartz

  • Everything Feels Bad. Figurations of the Self in Contemporary Eastern European Literatures, in: Matthias Schwartz, Heike Winkel (Hg.): Eastern European Youth Сultures in a Global Context. New York: Palgrave Macmillan 2016, 145–160
  • Eine Krypta patriotischer Phantomschmerzen. Der »Euromaidan« als umkämpfter Ort ost-westlicher Affektkulturen, in: Jahresbericht der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin (Hg.): Bericht über das Forschungsjahr 2014. Berlin: Geisteswissenschaftliche Zentren 2015, 92–107
  • Die Bulimie des Sisyphos. Affekt und Distanz in junger osteuropäischer Gegenwartsprosa (am Beispiel von Mirosław Nahacz), in: Nora Schmidt, Anna Förster (Hg.): Distanz. Schreibweisen, Entfernungen, Subjektkonstitutionen in der tschechischen und mitteleuropäischen Literatur. Weimar: VDG 2014, 185–202
  • »Jestem bogiem«. Rebellion und Frustration in junger polnischer Literatur, in: Christine Gölz, Alfrun Kliems (Hg.): Spielplätze der Verweigerung. Gegenkulturen im östlichen Europa nach 1956. Köln: Böhlau 2014, 444–464
  • Generation Nichts. Jugendbilder osteuropäischer Frustrations-Prosa, in: Osteuropa 63.11–12 (2013), 23–40

Veranstaltungen

Vortrag
08.07.2016 · 14.30 Uhr

Matthias Schwartz: Kontrafaktische Phantasmen. Zu Szczepan Twardochs historisch-fantastischen Fiktionen »jenseits des Endes der Zeit«

Künstlerhaus am Lenbachplatz, Lenbachplatz 8, 80333 München, Club-Raum 1

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Vortrag
09.05.2016 · 18.00 Uhr

Matthias Schwartz: »FUCK YOU, Eu.ro.pa!«. Osteuropäische Jugendkulturen im Umbruch

Universität Tübingen, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen. Großer Übungsraum

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ASEEES Convention Panel
19.11.2015 – 22.11.2015

Post-mortem Stalingrad. Shifting Memoryscapes of the City and the Battle

Philadelphia Marriott Downtown, 1201 Market Street, Philadelphia PA 19107 (USA)

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International Conference
06.11.2015 – 08.11.2015

After Memory. Conflicting Claims to World War Two in Contemporary Eastern European Literatures

ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et.

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Conference panel
02.10.2015 · 14.15 Uhr

Trauer, Spiel, Phantasma. Zum Umgang mit Geschichte in zeitgenössischen osteuropäischen Literaturen

Justus-Liebig-Universität Gießen, Otto-Behaghel-Str. 10D, 35394 Gießen

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Workshop
05.12.2014 – 06.12.2014

»Imperiale Emotionen«. Zur Konzeptualisierung ost-westlicher Affektkulturen angesichts der Ukraine-Krise

ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Seminarraum 303

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