Gerontographien: Eine Begriffs- und Kulturgeschichte des Alterswerks

Die vorgelegte Dissertation nimmt die Rede vom Alters- oder Spätwerk beim Wort und macht auf diesem Weg deutlich, dass mit ihr kultur- und wissensgeschichtlich bemerkenswerte Bedeutungen konstituiert werden. Gemeinsam ist diesen Bedeutungen, dass sie die im ›Alterswerk‹ buchstäbliche Unmittelbarkeit von Lebensalter und Kunst konzeptuell, oder, anders gesagt: gerontographisch umzusetzen suchen. Ob Verfall, Vollendung, Überleben, Zäsur, Entsagung oder Subjektivierung: Die Rede vom Alterswerk artikuliert grundsätzlich Versuche, Semantiken von Alter und Werk über ihren Kurzschluss zu verschieben oder auch überhaupt erst hervorzubringen. ›Das Alter‹ wird an dieser Stelle nicht verdrängt – wie die zitierten Figuren suggerieren könnten; es kommt vielmehr zur Sprache und damit auch zu neuen Begriffen. Auch wenn es sich oftmals um ›Gegenfiguren‹ des Alters handelt, die als Opposition zu bestehenden Altersbegriffen ins Spiel gebracht werden: Es sind immer (mehr oder weniger neue) Figuren des Alters, die ihren Ausgang weniger von ›biologischen Tatsachen‹ als vielmehr von sprachlichen Kontexten nehmen. Gerontographien machen Alter nicht vergessen, sondern diskursivieren es.
Aus dieser Perspektive erscheint es sinnvoll und notwendig, zu fragen, inwiefern gerontographische Vorschriften in Subjektivierungspraktiken, wie etwa denen der Biographiearbeit, zur Problematisierung des Alters in der Gegenwart beigetragen haben und weiterhin beitragen. Das ›andere Wissen‹ vom Alter, das mit diesen Praktiken hervorgebracht wird, führt in jedem Fall weder hin zu einem synthetischen Begriff des Alters, der dessen politische, ökonomische, biologische, demographische und kulturelle Dimensionen in sich aufgehen lassen könnte, noch führt es von diesen Begriffen und ihren Spannungsverhältnissen weg. Es verweist vielmehr auf den Rahmen einer Normalisierungsgesellschaft, in der nicht nur ›Leben machen‹, sondern auch die Segmentierung des Lebenslaufs und die Disziplinierung der entsprechenden Subjektivierungsweisen von zentralem Interesse sind: Wie die Disseratation zeigt, tragen Gerontographien in ihrer Produktion und Rezeption – häufig im Gegensatz zu unreflektiert emphatischen Lektüren (›Greisenavantgardismus‹) – in hohem Maß zur Normalisierung ›des Alters‹ bei.

ZfL Doctoral Fellowship 2008–2010
Head researcher(s): Alexander Schwieren

Publications

Alexander Schwieren

Gerontographien
Eine Begriffs- und Kulturgeschichte des Alterswerks

LiteraturForschung vol. 23
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015, 440 pages
ISBN 978-3-86599-244-4

Alexander Schwieren

  • Todeszone: Über Alterswerke und Alterswissen, in: Gegenworte: Hefte für den Disput über Wissen 25 (2011), 55–57
  • “... gezeitigt vom Reibungskoeffizienten der Harmonie”: Thomas Mann, Theodor W. Adorno und der Spätstil, in: Weimarer Beiträge 2 (2010), 213–236
  • Das Alter(n) der Kulturwissenschaften. Drei Sammelbände stellen Ansätze zur Konzeptualisierung des Alters vor, in: KulturPoetik 2 (2010), 285–293
  • “Freiwilliger Abschied”? Die Imagination des Gerontozids als Verhandlung der Lebensdauer in der Moderne, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34.4 (2009), 111–129