Elemente zu einer kulturwissenschaftlichen Geschichte grammatischer Theorien

Die Wissensformation der Grammatik oszilliert, in ihrem Umgang mit kulturellen Phänomenen, zwischen zwei extremen Polen: Einerseits bilden Grammatiken von einzelnen Sprachen, Dialekten, Soziolekten etc. eine potentiell unendliche Reihe von Gesetzmäßigkeiten diverser Idiome; andererseits ist ›Grammatik‹ auch, spätestens seit der Grammaire générale von Port Royal, ein Name für den Versuch, eine Gesetzmäßigkeit des Wissens zu finden, die von der Diversität der Sprachen zu abstrahieren erlauben würde. Im ersten Sinne ist sie hochgradig sensibel für kulturelle Varianz, so daß sie in der heutigen postkolonialen Situation etwa im Dienst des Bedürfnisses steht, die Transformationen europäischer Sprachen außerhalb Europas als Sprachen eigenen Rechts zu beschreiben (z.B. das Kolumbianische oder das Kapverdische Créole). Im zweiten Sinne sucht sie nach kulturunabhängigen, logischen oder biologischen Universalien, so daß in ihrem Namen heute ein Teil der Sprachwissenschaften, etwa in einer sich auf Noam Chomsky berufenden neueren Forschungsrichtung, in eine allgemeine Kognitions- und Neurowissenschaft übergeht.

Wenn man, etwa Quintilian zufolge, »die Grammatik [...] ins Lateinische als litteratura übertragen« hat, so umfaßt dieser Literatur-Begriff natürlich weit mehr als dasjenige, was heute ›(schöne) Literatur‹ genannt wird, und meint ganz allgemein die Kunst, mit Buchstaben umzugehen. Gerade deshalb fällt die historische Rekonstruktion grammatischer Theorien in den Aufgabenbereich der Literatur- als Grundlagenforschung. Dies kann vor allem durch die folgenden vier Akzente deutlich werden, mit denen das Projekt in enger Beziehung zu früheren, gegenwärtigen und geplanten Arbeiten am ZfL und in dessen wissenschaftlichem Umfeld stand:

  1. Grammatik und Literatur (›im engeren Sinne‹). Noch im 13. Jahrhundert wird die Poesie gelegentlich der Grammatik zugeordnet, und in der Folgezeit begleitet die Grammatik die Rhetorik, Poetik und Ästhetik als deren schlecht Verdrängtes. Während Literaturtheoretiker nur ausnahmsweise (z.B. die Frühromantiker oder Roman Jakobson) an diesem Verdrängten arbeiten, tun Dichter dies sehr viel häufiger, besonders deutlich etwa Milton, Klopstock oder Mallarmé.
  2. Grammatik und Schriftlichkeit. Die etymologische Herkunft der Grammatik von grámma, der Schrift, ist in vielfacher Hinsicht zu plausibilisieren, angefangen damit, daß die Buchstabenschrift selbst schon ein sprachanalytisches Verfahren ist. Die Beschäftigung mit der Grammatik kann deshalb in eine allgemeine ›Grammatologie‹ eingeschrieben werden, die sich freilich nicht auf den permanenten Nachweis des Logophonozentrismus beschränkt, sondern (wie dies bei Derrida durchaus auch als Programm formuliert war) die ›Grammatologie als positive Wissenschaft‹, als allgemeine Geschichte graphischer Operationen, mitumfaßt.
  3. Grammatik zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Seit das Wissen kategorial in Natur- und Geisteswissenschaften geteilt wird, also seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, oszillieren die Sprachwissenschaften zwischen diesen beiden Bereichen. Symptomatisch dafür ist etwa eine berühmte Rede von Hermann von Helmholtz, in der die Grammatik als Spaltpilz zwischen den ›beiden Kulturen‹ herumspukt.
  4. Grammatik und das ›Fremde‹. Seit die ›Barbaren‹ von den bereits bei Homer belegten barbaróphōnoi, den ›Ba-Ba‹-Sagenden, abgeleitet wurden, wird die Entwicklung der Grammatik leitmotivisch von der Reflexion auf die Grenzen zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ geprägt. Die – eminent politische – Virulenz dieser Frage betrifft sowohl die Behandlung von ›fremden‹ Elementen der ›eigenen‹ Sprache, als auch die Beschreibung ›fremder‹ Sprachen, vor allem im Zuge der ›vergleichenden Grammatik‹ sowie in der Erforschung ›schriftloser Kulturen‹.
gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2005–2007
Leitung: Robert Stockhammer

Publikationen

Robert Stockhammer

Grammatik
Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution

suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 2095
Suhrkamp, Berlin 2014, 548 Seiten
ISBN 978-3-518-29695-0

Medienecho

14.01.2016
Robert Stockhammer. 2014. Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution

Rezension von Andreas Gardt, in: Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Sprachwissenschaft. Band 7, Heft 1-2, S. 168–172, lesen: 10.1515/zrs-2015-0031 (January 2016)

22.09.2014
»Der Satz wird Trapattoni überleben«. Robert Stockhammer hat ein Buch über Grammatik geschrieben

Er sagt, warum der Mensch nach klaren Regeln verlangt – und wie ein Fussballtrainer in die Sprachgeschichte eingeht. Interview mit Robert Stockhammer (Interviewer: Linus Schöpfer), in: Berner Zeitung vom 22.09.2014, lesen

05.09.2014
Bitte sprechen Sie in ganzen Sätzen

Unausdenkbar, wenn Sprache einfach das wäre, was die Leute äußern. Dagegen haben Grammatiker immer schon opponiert. Robert Stockhammer verfolgt die Geschichte ihrer Ideen und Mühen. Rezension von Katharina Teutsch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.09.2014