Übersetzungsstrategien und Werkgenese bei Vilém Flusser und Sigmund Freud

Flusser und Freud weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf: beide waren mehrsprachig und stammten aus jüdischen Familien aus dem damaligen Kaisertum Österreich. Beide waren gezwungen, ihr Land und die deutsche Sprache, die für sie das wichtigste Instrument für Reflexion und Ausdruck war, zurückzulassen. Im Exil erfuhren sie das Unbehagen und die Missverständnisse, die das Leben in einer neuen Sprache und Kultur mit sich bringt, am eigenen Leib, und beide suchten durch das Formulieren neuer und anspruchsvoller Ideen Wege aus dieser Sackgasse.

Obwohl der Heimatverlust für Sigmund Freud im letzten Jahr seines Lebens geschah, als er von Wien nach London floh, ist laut Altounian (2003) in vielen seiner Schriften nicht nur der Einfluss seiner eigenen sondern auch der der erzwungenen Migration seiner Vorfahren zu spüren. Bedeutend ist dieser Einfluss nicht nur für Freuds Verständnis von Kultur und menschlicher Psyche, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung seines Schlüsselvokabulars (z.B. Zwang, Trieb, Regression, Besetzung, Fixierung etc.). Vilém Flusser hat Prag im Alter von zwanzig Jahren verlassen und siedelte zunächst ebenfalls nach London über, wo er seine akademische Ausbildung begann; später dann wanderte er nach São Paulo (Brasilien) aus, wo er sich zu einem wichtigen Denker der Kultur- und Übersetzungswissenschaft entwickelte.

Die Sprache war für Freud der Schlüssel für eine neue klinische Methode, die im Symbolischen das Verständnis und den Umgang mit einer Art von Leiden, das Körper und Seele überlappend betrifft, gefunden hat. In seinem Meisterwerk Die Traumdeutung beschreibt Freud die Psychoanalyse als eine Übersetzung zwischen Systemen: dem Unbewussten und dem Bewussten. Flusser, der Wanderdenker, schrieb sein erstes Buch Sprache und Wirklichkeit [Língua e Realidade] auf Portugiesisch, obwohl Deutsch seine erste Sprache war. Mit diesem Schritt versuchte er zu zeigen, wie man von seiner Muttersprache in seinen Weltansichten, Ausdrucks- und Denkmöglichkeiten beeinflusst und beschränkt wird. Für ihn war Übersetzung (auch die Selbstübersetzung) ein mächtiges Werkzeug, um philosophische und sprachliche Grenzen zu überwinden.

Durch ein kombiniertes close reading der Schriften beider Autoren untersuchte das Projekt die Fähigkeiten und Möglichkeiten sowie die Beschränkungen der Übersetzung bei der Entwicklung des Wissens zwischen Kulturen, sowohl im wissenschaftlichen als auch im philosophischen und im literarischen Bereich.

Stipendium der Fundação de Amparo à Pesquisa do Estado de São Paulo (FAPESP) 2016
Leitung: Pedro Heliodoro Tavares