Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ed./eds.)

Überleben

Trajekte 18
Berlin 2009, 56 pages
ISSN: 1616-3036
  • Überleben und Nachhaltigkeit. Ein problem- und begriffsgeschichtlicher Aufriss (Falko Schmieder)
  • Aus dem Archiv
  • Das Nachleben der Antike. Zur Einführung in die Bibliothek Warburg (Fritz Saxl)
  • Nachleben als Programm und Methode der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (Martin Treml)
  • Überleben im Erbe. World Heritage und konservatorische Futurisierung (Stefan Willer)
  • »Our common future«. Technik, Risiko und der Umgang mit irreversiblen Prozessen
    (Tile von Damm)
  • Überlebende Organe und ihr Milieu. Von der Distinktion zur Relation (Katrin Solhdju)
  • Gesellschaft als Überlebenszusammenhang. Zu Hobbes' Leviathan (Stefanie Ertz)
  • Aus dem Archiv
    Furchtlose Augen (Warlam Schalamow)
  • Überleben im GULAG. Varlam Šalamovs Erzählungen aus der Kolyma (Franziska Thun-Hohenstein)
  • »Verstrichener Humanismus«. Zum Begriff des Überlebens nach Auschwitz (Birgit Erdle)
  • Überleben und Schreiben. Zu Sempruns L'écriture ou la vie (Christina Pareigis)
  • Zeugen des Überlebens. Zu Agambens Was bleibt von Auschwitz? (Dirk Naguschewski)
  • Überleben des Untergangs. Zu Adornos Negativer Dialektik (Christine Kirchhoff)
  • Überlebensschuld. Zu Canettis Masse und Macht
    (Justus Fetscher)
  • Piotr Nathan. Kunst der Vergänglichkeit
  • PLN, LTI. Überschreibungen des 'inneren Deutschland'
    (Karlheinz Barck)
  • Wiedergänger. Zu Derridas Spectres de Marx
    (Christine Blättler)
  • Vom Überleben des Imperiums. Aktuelle Narrative in Russland (Matthias Meindl)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Excerpt

In Anbetracht der globalen Klimakatastrophe und der internationalen Finanzkrise ist die Rede vom Überleben allgegenwärtig. So melden die Zeitungen am 18. Februar 2009 beispielsweise, dass die US Regierung nach Vorlage des Sanierungskonzepts der schwer angeschlagenen US-Autobauer an alle Seiten appelliert habe, sich für ein Überleben der Firmen einzusetzen. Was aber hat dieses Überleben der Automobilfirmen mit jenem Bild zu tun, das uns wiederholt aus den immer gleichen Nachrichtenbildern von Erdbeben-, Unwetter- oder Flugzeugkatastrophen anspringt: Verstört, planlos und wie abwesend, unansprechbar und zu keiner klaren Auskunft über das Geschehene fähig, irrt ein Mensch, der die Katastrophe überlebt hat, auf den Trümmern des Unfall- oder Unglücksorts umher, anstatt sich um das eigene Leben zu sorgen – ein Bild, in dem sich die Figur des Überlebenden verdichtet und verkörpert. Durch den Tatbestand, überlebt zu haben, scheint hier die Sorge um das eigene Leben zunächst ausgeschaltet.

Während die Semantik beider Überlebensbegriffe extrem auseinander fällt – dort ein weites Verständnis von Leben, das auch nicht-biologische Körperschaften einschließt, hier die existenzielle Zuspitzung des Sinns vom Überleben an der Schwelle zum Tod, im Angesicht der Opfer eines 'unnatürlichen' Todes –, während beide Bedeutungen also auf den ersten Blick wenig gemein zu haben scheinen, gibt es womöglich dennoch eine Verbindung. Diese zeigt sich weniger auf der Begriffsebene als in ein und demselben Begründungszusammenhang für beide: der Geschichte der Moderne als einer Abfolge der man-made disaster. Ein solches Bild der Moderne ist geprägt von dem Bewusstsein, dass nicht nur das einzelne Leben ständig bedroht ist, sondern der Fortbestand der Spezies. Damit sind Unglück und Unfall von der Ausnahme zum Sonderfall einer permanenten Gefahr mutiert. Eine solche Bewusstseinslage grundiert auch die gegenwärtige Konjunktur des Überlebens-Paradigmas.

In ihrem Beitrag zu Natur und Geschichte, in dem Hannah Arendt in den fünfziger Jahren die im 20. Jahrhundert fundamental veränderte Beziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften erörtert hat, erscheint eine auf den ersten Blick ganz unkatastrophische Semantik des Überlebens, mit der die moderne, auf Kurzlebigkeit ausgerichtete Produktionsweise im technischen Zeitalter am Beispiel des Häuserbaus in den Vereinigten Staaten kommentiert wird: "Das Haus soll gar nicht mehr den Menschen, sondern der Mensch das Haus überleben." Diese unspektakuläre Feststellung verweist allerdings auf einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zwischen biologischer, historischer Zeit und der Zeit der Dinge. Mit ihm verändert sich auch das Verhältnis zum Erbe der Vergangenheit.

Schon in seinem Essay zum Passagen-Projekt hatte Walter Benjamin in den dreißiger Jahren das Verhältnis zwischen dem kollektiven Imaginären und der Architektur als eine Art verschachtelter Topographie des kollektiven Gedächtnisses beschrieben, deren historische Signatur auf die Entwicklung der Produktivkräfte zurückgeht. Letztere, so Benjamin in Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, "legte die Wunschsymbole des vorigen Jahrhunderts in Trümmern noch ehe die sie darstellenden Monumente zerfallen sind. ... Sie sind Rückstände einer Traumwelt". Während die Städtebewohner zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich demnach mit den Rückständen einer Traumwelt des 19. Jahrhunderts umgeben sahen, sind solche Reste in Hannah Arendts Jetztzeit der USA nach dem Zweiten Weltkrieg im Verschwinden begriffen. Nun spielt sich der Umbau von Haus und Landschaft bereits innerhalb der Lebensspanne einer Generation ab. Dies beschreibt Arendt als eine Art Kreislauf von "bauen, verbrauchen, einreißen, und neu bauen". Als Effekt der forcierten Entwicklung und der gleichzeitigen Funktionserweiterung der Technik verweist sie auf die "Geschwindigkeit, mit der sich das äußere Bild der Welt verändert", und erläutert diese beschleunigte Veränderung mit einem mythischen Bild, "als sei die Welt in einen proteischen Verwandlungsprozess gerissen." Der Ausdruck "gerissen" signalisiert, dass hier eine technisch-ökonomische Bewegung in Gang gesetzt ist, deren Dynamik in mythische Zeit umschlägt, in das Gefühl, außerhistorischen Kräften ausgeliefert zu sein. Und tatsächlich wird Arendt die geschichtsphilosophische Signatur dieser Konstellation wenig später als Angleichung der geschichtlichen an eine zyklische Zeit erörtern. Der Verlust historischer Zeit versetzt die Menschen zurück in das Bewusstsein der Kreatur, das nur noch Überleben, aber kein Leben kennt. Das Selbstverständnis des Menschen als Kreatur aber hat Benjamin schon in seinem Trauerspielbuch in den zwanziger Jahre als eine widerhistorische Haltung bewertet.

Als Hannah Arendt 1961 einige Beiträge zu Grundbegriffen des politischen Denkens –Natur, Geschichte, Freiheit, Politik, Wahrheit – zu dem Buch Between Past and Future zusammenfasst, beginnt sie ihr Vorwort mit einem Aphorismus des französischen Schriftstellers René Char: "'Notre héritage n'est précédé d'aucun testament' –‚unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.'" Dieses Zitat ist Ausgangspunkt einer Reflexion über die Lücke, die das Verschwinden des Konzepts der Tradition für das Handeln hinterlassen hat: "Das Testament, das dem Erben sagt, was rechtmäßig sein eigen ist, verfügt über vergangenen Besitz für eine Zukunft. Ohne Testament oder, um die Metapher aufzulösen, ohne Tradition – die auswählt und benennt, die übergibt und bewahrt, die anzeigt, wo die Schätze sind und was ihr Wert ist – scheint es keine gewollte zeitliche Kontinuität und also, menschlich gesprochen, keine Vergangenheit und Zukunft zu geben, nur immerwährenden Wandel der Welt und den biologischen Kreislauf der lebendigen Geschöpfe in ihr." Vor diesem Hintergrund lässt sich die aktuelle Politik der 'Nachhaltigkeit', einer auf Zukunft gestellten Praxis des Erbens, als verzweifelte Antwort auf eine forciert um sich greifende Traditionslosigkeit deuten. Die Sorge um das Überdauern repräsentativer Zeugnisse der Vergangenheit wirkt wie eine kontra-phobische Politik, mit der die Vergangenheit gegen die Angriffe der Gegenwart abgesichert werden soll, als Überleben der Dinge, während sich das Erbe doch zur gleichen Zeit in eine Anhäufung von Schulden verwandelt.

Mit der gegenwärtigen Konjunktur des Überlebensbegriffs reicht eine der herausragenden Figuren des 20. ins 21. Jahrhundert hinein. Denn jede Rede von dem Überleben wird seit der Shoah überschattet von der besonderen Bedeutung, die das Wort in deren Nachgeschichte erhalten hat. Vor deren Horizont spitzt sich die Frage nach dem begrifflichen Zusammenhalt der verschiedenen Bedeutungsfacetten noch zu. Was hat das Überleben als Symptom eines Krisenbewusstseins, was das Bewusstsein einer globalen Gefährdung des künftigen Lebens von Mensch und Umwelt auf diesem Planeten etwa mit einer solch radikalen Wendung zu tun wie derjenigen des Ich-Erzählers in Georges-Arthur Goldschmidts autobiographischer Reflexion Le poing dans la bouche (2004, dt. Die Faust im Mund, 2008), in der dieser sich als "unnötig Überlebenden" bezeichnet: "Ich fand für dieses Unbehagen – zweifelhafte Herkunft und unnötiges Überleben samt uneingestehbarer Gewohnheiten – keine passende oder auch nur mögliche Form des Ausdrucks." Wer einmal durch die Judenpolitik der Nazis qua Geburt zum Tode 'bestimmt' worden ist, dieser 'Bestimmung' aber durch Emigration, Versteck oder die Hilfe anderer entkommen ist, dem erscheint das eigene 'gerettete' Leben nicht selten als unberechtigt, gleichsam illegitim oder gar 'unnötig'.

Die Psychoanalyse hat einige Jahrzehnte benötigt, um eine solche Traumatisierung von Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik als 'Überlebendensyndrom' zu verstehen, das sehr häufig eine latente suizidale Gefährdung einschließt. Noch länger hat es gedauert, bis die Mehrheitsgesellschaft, bis vor allem Justiz und Entschädigungsbürokratie bereit waren, die Gefährdung von Überlebenden – die zur Selbsttötung viele Jahrzehnte nach dem Ende der unmittelbaren Gefahr führen kann, wie im Falle von Primo Levi, Paul Celan, Peter Szondi, Jean Améry und anderen – als 'Spätschaden' anzuerkennen, d.h. als Beschädigung, die in einem direkten Zusammenhang zur Shoah steht. Améry selbst hat diese psychische Dynamik durch den radikalen Verlust an 'Weltvertrauen' erklärt. Nach dieser spezifischen Art von Überleben scheint das Leben per se und ganz grundlegend in Frage gestellt, hat die Verbindung von 'Gewissheit' und – zeitlicher – 'Unbestimmtheit' des Todes, die Heideggers Ontologie 1927 als grundlegend für das Dasein reflektiert hat, durch die allzu konkret gemeinte Bestimmung zum Tode durch die NS-Rassenpolitik ihre existenzielle Geltung verloren. Damit hat die Bestimmung des Daseins als "Sein zum Tode" eine fundamental andere Bedeutung erhalten, als der Urheber dieser Formel sich hat vorstellen können.

Anstatt das Lager als Chiffre für das 20. Jahrhundert zu metaphorisieren, gilt es den Schatten zu reflektieren, den die Figur des Shoah-Überlebenden auf jeden Überlebensdiskurs seither wirft. Vielleicht lohnt es sich heute – angesichts der Tatsache, dass adäquate Analysen der gegenwärtigen globalen 'Krise' bislang ausgeblieben sind – noch einmal auf die Versuche der Kritischen Theorie zurückzukommen, die Kosten der Modernisierung und den Zivilisationsbruch der Shoah in einen gemeinsamen geschichtstheoretischen Begründungszusammenhang zu stellen. Und insofern die Apologie der Privatisierung, die in den letzten beiden Jahrzehnten den öffentlichen Diskurs beherrschte, sich blind erwiesen hat gegenüber der Vergesellschaftung der Kosten, die sich im Rücken der Privatisierung (der Gewinne) abgespielt hat, wird – so darf vermutet werden – das in letzter Zeit vielfach geäußerte Verdikt gegen die kapitalismusanalytischen Bemühungen von Autoren der Kritischen Theorie in einem veränderten Licht erscheinen.

Das Bewusstsein, dass das Leben in vieler Hinsicht nur mehr Überleben sei, ist jedoch ein Denkmuster, das weiter als ins 20. Jahrhundert zurückreicht, wie der einführende problem- und begriffsgeschichtliche Essay von Falko Schmieder zeigt. Ihm sind auch Anregung und Konzeption dieses Schwerpunktthemas der Trajekte zu verdanken. Das Vorhaben, hier einige der zahlreichen Varianten aus der facettenreichen Bedeutung des Überlebensbegriffs vorzustellen, versteht sich als Beitrag zu einer Arbeit an Differenzen. Denn die aktuelle Ubiquität des Überlebensbegriffs korreliert mit einer prekären Tendenz zur Einebnung aller Unterscheidungen.

Sigrid Weigel