Zentrum für Literaturforschung (ed./eds.)
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Heft 5

Trajekte 5
Berlin 2002, 40 pages
  • Jahrestagung
    Andere Räume der Moderne - Topographien (Robert Stockhammer)
  • Symposion
    Archäologie als Methode und Metapher (Sigrid Weigel/Sabine Flach)
  • Aus dem Archiv
    Zur Odyssee von Benjamins Trauerspielbuch im Warburg-Kreis. Ein Brief Fritz Saxls an Gershom Scholem (Sigrid Weigel)
  • Bildessay
    Vom Archäologen, der nicht gräbt ... Ein 'Petit Journal de L'Archéologue' von Anne und Patrick Poirier (Sabine Flach)
  • Korrespondenzen
    Theatralität als Medium (Samuel Weber)
  • Die Ablagekur oder: 'Wo Es war, soll Archiv werden'. Die historische Avantgarde im Zeitalter des Büros (Sven Spieker)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Archäologie der Moderne im Grabungsquerschnitt: Fundorte und Fundstücke (Justus Fetscher/Inge Münz-Koenen/Marianne Streisand)
  • Grenzen-Schmuggel. Der Forschungsschwerpunkt III (Robert Stockhammer)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Excerpt

Sigrid Weigel

Diese fünfte Nummer der Trajekte widmet sich zwei Verfahrensweisen, die in den jüngeren Kulturwissenschaften – und auch in der Arbeit des Zentrums für Literaturforschung - eine wichtige Stelle besetzen: Archäologie und Topographie. Beide spielen eine zentrale Rolle in der Arbeit an Untersuchungs-, Betrachtungs- und Darstellungsweisen jenseits jener großen Erzählungen, die sich entlang von Chronologien oder Entwicklungsgeschichten und in den Grenzen nationaler oder geographischer Territorien bewegen.

Im Unterschied zu Entwicklungsgeschichten, deren Erzählungen von der (Re-)Konstruktion eines vermeintlichen Anfangs ausgehen, und auch im Unterschied zu historiographischen oder geschichtsphilosophischen Konstruktionen, die einen möglichen Blick von außerhalb auf das Geschehene imaginieren, betonen archäologische Verfahren die Perspektive der Gegenwart und deren Signatur der Nachträglichkeit. Zugleich berücksichtigen sie die Tatsache, daß das Vergangene stets aus den materiellen Spuren und Überresten rekonstruiert, also gelesen und gedeutet werden muß. Dabei stoßen die Betrachter nicht nur auf vergangene und fremde Symbol- und Zeichensysteme, sondern auch auf die Effekte historischer Kulturtechniken und Aufschreibesysteme, auf die Erzeugnisse vergangener Konstruktions- und Archivierungsweisen. Insofern ist eine Archäologie der Kulturgeschichte immer auch auf eine Archäologie des Wissens verwiesen.

Die Praxis von Archäologie in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften ist dabei selbst ein archäologisches Projekt, weil es dabei um die Wiederentdeckung und Relektüre des faszinierenden Feldes archäologischer Methoden in den Kulturtheorien der Moderne geht, beispielsweise in den Arbeiten von Freud, Benjamin und dem Warburg-Kreis. Beflügelt nicht zuletzt durch die Funde und durch die Karriere der fachwissenschaftlichen Archäologie im 19. Jahrhundert wurde diese um 1900 zum Zündfunken für neue kulturtheoretische Konzepte und die Arbeit an einer umfassenden, vergleichenden Kulturgeschichte, die sich jenseits überlieferter Gebietsgrenzen von Disziplinen, Genres und Künste entwickelt hat. Die genannte Konstellation um 1900 steht im Zentrum eines SYMPOSIUMS des ZfL zu Archäologie als Metapher und Methode (11./12. Oktober), das u.a. den Impulsen der klassischen Archäologie für Philologie, Psychoanalyse, Semiotik und Medientheorie nachgeht, das aber auch danach fragt, welche Konsequenzen deren Transformation in ein ubiquitäres kulturwissenschaftliches Paradigma für die Archäologie der Antike bzw. die Stellung der Antike in der Archäologie hat.

Wenn es um Archäologie geht, sind auch Literatur und Kunst immer schon mit von der Partie. Ästhetische Praktiken - Graben, Sondieren, Abtragen und Wiederzusammensetzen - sind in vielem den Tätigkeiten von Archäologen vergleichbar, wenn nicht die Künste mit ihren Recherchen und Rekonstruktionen des Vergangenen überhaupt einer Archäologie des Wissens und der Kultur vorausgehen. So ist die Archäologie heute zum Feld einer beispielhaften Interaktion zwischen Wissenschaft und Kunst geworden, wie der BILDESSAY zu dem Petit Journal de l’Archéologue von Anne und Patrick Poirier zeigt. Auch dieser Transfer zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Verfahren hat seine Geschichte. Im Projekt einer Archäologie von Moderne und Avantgarde wird deutlich, in welch vielfältiger Weise sich Archäologie, Ästhetik und Kulturtechniken verschränken. So begibt sich der Gastessay von Sven Spieker – im Anschluß an Walter Benjamins Schocktheorie – in das Archiv des Surrealismus, um darin zahlreiche Engführungen zwischen den Aufschreibesystemen des Unbewußten und des Büros zu beleuchten (KORRESPONDENZEN). Ein Grabungsquerschnitt aus den Forschungen des ZfL-Projekts zur Archäologie der Moderne hat dagegen ein ganzes Register von Sinnesalphabeten zu Tage gefördert, an dessen Herstellung alle Medien und Künste der Moderne beteiligt waren (AUS DER ARBEIT DES ZFL).

Nicht nur die textkritische Rekonstruktion von Schriften und Manuskripten, sondern jede philologische Archivarbeit stellt sich dar als kriminalistisches Zusammenspiel von Lektüre und Archäologie. Erst dem suchenden Blick verwandeln sich Dokumente in Fundstücke. Das belegt eine kleine Episode aus der Geschichte des verfehlten Dialogs zwischen dem Warburg-Kreis und Walter Benjamin, die mit einem Brief Saxls an Scholem AUS DEM ARCHIV rekonstruiert wird.

Das Phänomen, daß „die Zeit in den Schauplatz hineingewandert ist“ (Benjamin), verbindet die beiden hier thematisierten Verfahren, Archäologie und Topographie, - auch darin den genuinen Verfahrensweisen der Literatur verwandt, wie beispielsweise dem Chronotopos (Bachtin) als einem der tradierten Raum-Zeit-Konstruktionen der europäischen Literaturgeschichte. Vor allem aber das Theater ist Modell einer Repräsentation, bei der die Bühne zum Schauplatz einer raumzeitlichen Lokalisierung, eines „hic et ubique“, wird. In der Moderne wurde dieses, wie Sam Weber in seinem Gastessay zeigt, in ein Konzept von Theatralität verschoben, in der die Theatralität als Medium eine Handlungstheorie begründet, in der das Stattfindende stets auf ein Anderswo verwiesen bleibt und die Bühne als Resonanzboden eines gespenstischen Echos erscheint, auf dem jeder Abschluß in Frage steht (KORRESPONDENZEN).

Aber erst die Kritik an einem normativen temporalen Konzept der Moderne hat jene „Epoche des Raumes“ (Foucault) in der Theorie begründet, die in den jüngeren Kulturwissenschaften eine Vielzahl topographischer Figuren und Methoden hervorgebracht hat. Vor diesem Hintergrund ist für die diesjährige JAHRESTAGUNG des ZfL unter dem Titel Andere Räume der Moderne – Topographien (25.-27. Oktober) eine Bestandsaufnahme und Diskussion von raumbezogenen Topoi in der gegenwärtigen Literatur, Kunst und Theorienbildung geplant. Die Tagung hat u.a. das Ziel, Forschungsergebnisse und Thesen aus den Projekten des in diesem Heft vorgestellten Forschungsschwerpunkts III am ZfL, Andere Moderne(n), zur Diskussion zu stellen und zusammen mit internationalen Wissenschaftlern, die an verwandten Projekten arbeiten, in Austausch zu treten.