Zentrum für Literaturforschung (Hg.)
[Vergriffen!]

Heft 1

Trajekte 1
Berlin 2000, 32 Seiten
  • Aus dem Archiv
    Intellectual Baedeker. Marshall McLuhans Projekt zu "ARTS & Sciences" (Karlheinz Barck)
  • Changing Paradigms in the ARTS & Sciences since 1900 (Marshall McLuhan)
  • Nur Bilder, oder: Bücher sind keine Treppen (Wolfgang Schäffner)
  • Korrespondenzen
    Publication as a Form of Authorial Authority. Dickens's 'Bleak House' (J. Hillis Miller)
  • Intercultural 'Citizens' as 'Netizens'. An Interview with Mark Poster (Utz Riese, Karl-Heinz Magister)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Das Laokoon-Paradigma
  • Trajekte der Ästhetik
  • Jahrestagung
    Internationales Symposion: Literaturforschung & Wissenschaftsgeschichte (Bernhard Dotzler)
  • Texturen des Experiments (Hans-Jörg Rheinberger)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Sigrid Weigel

“Ist es legitim, aus dem Diskurs der Wissenschaft ein Bild der Welt zu extrapolieren, das meinen Wünschen entspricht? Wenn die Operation, die ich hier versuche, mich reizt, dann deshalb, weil ich den Eindruck habe, daß sie an einen sehr alten Strang in der Geschichte der Dichtung anknüpfen könnte.” (Italo Calvino)

Mit dieser ersten Nummer des Newsletters wird ein Forum begründet, in dem zweimal jährlich Berichte aus der Arbeit des Zentrums für Literaturforschung veröffentlicht werden. Keine Bilanz der Forschungsarbeit, (Anm. 1) sondern exemplarische Beiträge aus laufenden Forschungen und Diskussionen: Spotlights aus der Arbeit, Werkstattberichte einzelner Projektgruppen, Funde aus Archiven, Ausschnitte aus Gesprächen mit den Gastwissenschaftlern des Zentrums, Informationen über abgeschlossene Forschungen und Publikationen, Hinweise auf die Tagungen und Vorträge des kommenden Halbjahres.

Der Newsletter will den Partnern und Freunden des Zentrums Einblicke in die Aktivitäten in der Jägerstraße 10/11 ermöglichen: nicht nur der scientific community, d.h. den Kollegen an den Universitäten und an den Forschungseinrichtungen world wide, die mit uns kooperieren, sowie den politischen und forschungspolitischen Institutionen, die unsere Arbeit unterstützen, sondern auch einer interessierten kulturellen Öffentlichkeit.

Die Herausgabe des Newsletters versteht sich auch als Teil eines Bemühens um verstärkte Gespräche und Auseinandersetzungen zwischen Wissenschaft und Kultur. Befinden wir uns derzeit inmitten einer Entwicklung, in der die wissenschaftlichen und technologischen Entdeckungen immer rascher und direkter konkrete kulturelle Effekte zeitigen, so mangelt es doch zugleich – nicht zuletzt aufgrund der Spartenaufteilung zwischen Kunst und Wissenschaft und des überkommenen “Gebietscharakters” der Disziplinen (Walter Benjamin) – an einem differenzierten Verständnis, um die kulturellen Zusammenhänge des ‚wissenschaftlichen Fortschritts‘ erörtern zu können. Die Literaturforschung bietet hierfür insofern gewisse Voraussetzungen, als ihre spezifischen Methoden immer schon an der Schwelle von Kunst und Wissen operieren und ihre Aufmerksamkeit sich immer schon auf die Übergänge und Abgründe zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen richtet.

Literaturforschung – Philologie im Stande der Gegenwart

Die Literaturforschung nämlich entspringt einer tradierten – teils vergessenen, teils durch die Geschichte der Wissenschaften zerbrochenen – Verbindung von poietischem und theoretischem Wissen. War in der Antike die Einheit des Wissens ‚poetisch‘ “im ursprünglichen Sinne”, (Anm. 2) so kann es heute nicht darum gehen, diese Einheit wiederherzustellen. Jedoch können mit der Literaturforschung Erkenntnismöglichkeiten genutzt und reaktiviert werden, die ebenso aus dem Umgang mit dieser ursprünglichen Einheit wie aus den Erfahrungen mit der Genese und den verschiedenen Modellen voneinander getrennter Künste, Gattungen, Wissensfelder, Disziplinen und Diskurse erwachsen sind.

Als die Frühromantiker ihre “Philosophie der Philologie” formulierten, geschah das in einer Konstellation, in der sie die Etablierung einzelner Wissensbestände in Form getrennter Fachwissenschaften vor Augen hatten und gleichzeitig eine enzyklopädische Einheit von Wissen und Künsten im Rücken, wobei ihr Blick sich auf eine “materiale Alterthumslehre” richtete, in der sie die Grundlage sahen für die Geburt einer “Theorie der historischen Kritik” aus der Kunstlehre. Philologie wurde dergestalt als eine Erkenntnisweise, eine “Art der Philosophie” begründet, die eine Brücke aufspannt zwischen der Erforschung der historischen Bedingtheit allen Wissens – “ph l ist Interesse für bedingtes Wissen” – und dem Anspruch, eine Synthese von Kunst und Wissenschaft herzustellen: “Nur dadurch daß die ph l Wissenschaft wird, kann sie sich als Kunst erhalten”. (Anm. 3) Aufgrund dieser Stellung wird die Philologie zum Bestandteil einer “universellen Scheidungs- und Verbindungskunst”, wie Friedrich Schlegel in seinem berühmten Athenäumsfragment 404 formuliert:

“Philologie ist ein logischer Affekt, das Seitenstück der Philosophie, Enthusiasmus für chemische Erkenntnis: denn die Grammatik ist doch nur der philosophische Teil der universellen Scheidungs- und Verbindungskunst.”

Mit dieser Aufmerksamkeit für – sprachlich konstituierte – Vorgänge des Verbindens und Trennens, für Differenz und Einheit verfügt die Literaturforschung über eine besondere Kompetenz für epistemische Ent- und Vermischungen. Damit könnte sie der gegenwärtigen Entwicklung der Wissenschaften, die längst jenseits der Demarkationslinie zwischen den “zwei Kulturen” von Natur- und Geisteswissenschaften (C. P. Snow) verläuft, mit Erkenntnismöglichkeiten begegnen, die jenem ebenso populären wie trivialen Postulat einer “Einheit des Wissens” (Edward O. Wilson) widerstehen, das tatsächlich Vereinheitlichung meint, insofern damit eine vollständige Aufhebung aller kulturellen Phänomene und Bedeutungsfragen in naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle angestrebt wird. Anstelle von Vereinheitlichung aber wäre eine Kooperation zu entwickeln, die aus dem Zusammenspiel differenten Wissens, aus unterschiedlichen Betrachtungsweisen derselben Gegenstände (wie etwa dem Gedächtnis, dem Hirn, der Genealogie etc.) zu reicheren und komplexeren Erkenntnissen gelangt.

Literaturforschung heute kann an die genannte Tradition der Philologie als “chemische Erkenntnis” anknüpfen, um jene Scheidungen und Verbindungen, die sich seither im Wissen – der Wissenschaften und der Künste/Medien – ereignet haben, zu untersuchen und ihre Erkenntnismöglichkeiten auf den Stand der gegenwärtigen technischen und theoretischen Produktivkräfte zu bringen. Obwohl sie selbst sich im Stande vollzogener Trennungen befindet, verfügt sie über ein Wissen um vorausgegangene und verschwiegene Verbindungen. In Erinnerung an eine solche Tradition von Philologie und deren “Theorie historischer Kritik” erübrigt sich auch ein Streit über den ‚Gegenstand‘, wie er jüngst im Für und Wider der Literaturwissenschaft zwischen Dichtungskritik und Kulturwissenschaft ausgetragen wurde, (Anm. 4) – so als stünde die Literarizität, die Mehrstimmigkeit und symbolische Überdeterminiertheit der poetischen Sprache bzw. der ‚Sprache als Literatur‘ (Foucault) dem kulturhistorischen Wissen und jenem spezifischen Erkenntnisvermögen entgegen, das der Literatur eignet. Dessen literaturwissenschaftlich-systematische Analyse – Rhetorik, Methaphorologie, Narratologie, Lektüretheorie, Textkritik, Diskursanalyse etc. – kann durchaus eine Grundlage bilden für die Erforschung auch anderer Bedeutungs- und Symbolsysteme als die der ‚Kunstliteratur’. Der Titel Literaturforschung, der dem Zentrum seinen Namen gibt, definiert sich insofern nicht über ihren Gegenstand, sondern über die ihr eigene, spezifische Erkenntnisweise.

So wäre der Name Literaturforschung in einem mehrfachen Sinne zu verstehen: (1) Erforschung der Literatur in ihren kulturhistorischen, aisthetischen und medialen Zusammenhängen, wobei daran zu erinnern ist, daß der Begriff der Literatur eine relativ späte und historisch kontingente Erscheinung ist – “das Moderne ist nur Literatur” (Schlegel) –, die nur über ihre Genese und über die Differenz zu anderen Genres und Wissensformen zu beschreiben ist; (2) aber auch Literatur selbst als Forschung, nämlich als labormäßige Vereinigung der Elemente des Lebens in ihrer “reichen Unermeßlichkeit” (Rilke), d.h. die Literatur in ihrer Bedeutung als kulturelles Gedächtnis und als Archiv von Auseinandersetzungen mit den vielfältigen kulturellen Phänomenen und als eine Bearbeitungsweise, deren Besonderheit darin besteht, daß sie nicht nur auf der kognitiven Ebene angesiedelt ist, sondern sowohl die Dimensionen des Unbewußten, des Begehrens und der Ängste als auch die Reflexion auf ihre eigene sprachliche, symbolische und mediale Verfaßtheit einschließt; (3) schließlich Nutzung ihrer spezifischen Erkenntnismöglichkeiten und Methoden für die Erforschung solcher Wissensformationen, Symbolsysteme und Erscheinungen der Kulturgeschichte, deren Darstellungen sich einer Gleichzeitigkeit poetischer und logischer Sprachen bzw. einer Synthese poietischen und theoretischen Wissens verdanken. Diese letzte Dimension eröffnet das weiteste Feld der Literaturforschung; es schließt Bausteine für eine notwendig interdisziplinär angelegte Semiotik und Poetologie der Kultur und der Wissenschaften ein.

Die zuletzt genannte Perspektive der Literaturforschung, die Untersuchung kultur- und wissenschaftsgeschichtlicher Bestände, kann allerdings nicht in einer bloßen Umdefinition der “Kultur als Text” und der schlichten Übertragung des Lektüre-Paradigmas auf nicht-literarische Phänomene gründen. Vielmehr gehören derartige Operationen der Übertragung (metaphorein = gr. übertragen) selbst zum zentralen Interesse der Literaturforschung. Somit geht es um die Kompetenzen der Philologie als systematisch zu entwickelnde Verfahren und Techniken der Analyse von Bedeutungen oder besser: der Frage, wie Bedeutungen entstehen. Um es noch einmal mit Friedrich Schlegel zu sagen: “Die Philologie ist kein Aggregat von Wissenschaft, sondern ein Ganzes: aber kein logisches sondern ein technisches.” Die Philologie, verstanden als technisches Ganzes, das heißt nicht, zu beanspruchen, das Ganze in seinem logischen Zusammenhang zu erfassen und zu erklären, sondern sich als ein Ensemble von Techniken der historischen Kritik zu verstehen, die auch im Einzelnen das Ganze in den Blick nehmen, die das Einzelne also nicht als Teil, sondern als Detail betrachten. Damit stellt sich eine Literaturforschung, die historisch hinter die gegenwärtigen, im buchstäblichsten Sinne zu kurz greifenden Kontroversen zurückgeht und sich statt dessen der Erkenntnismöglichkeiten der Philologie besinnt, als eine Technik der Detailforschung des ganzen Wissens und der ganzen Kultur dar. Und dies hat durchaus auch mit Technik im wörtlichen Sinne – mit techné als vormaliges Zugleich von Kunst und Herstellung, von Artefakt und Gerät – zu tun, insofern es dabei um den materialen Aspekt der Bedeutungsproduktion geht. Insbesondere in Anbetracht der gegenwärtigen Medienentwicklung hat die Literaturforschung gelernt, auch nach der medienhistorischen Bedingtheit von Kunst und Wissen zu fragen.

Das Zentrum für Literaturforschung (ZfL)

Im Anschluß an den “Forschungsschwerpunkt Literaturwissenschaft”, in dem nach Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) (Anm. 5) und unter der Betreuung durch die Max-Planck-Gesellschaft von 1992 bis 94 ein literaturwissenschaftliches Forschungsprofil erarbeitet worden war, wurde 1996 das Zentrum für Literaturforschung unter seinem Gründungsdirektor Eberhard Lämmert eingerichtet. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung seither zählen die Geschichte der Ästhetik, eine historische Kultursemiotik, vergleichende Studien zum Autorkonzept in Ost- und Westeuropa, eine vergleichende Untersuchung der Moderne beider Amerika sowie Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik.

Ein großer Teil der Aktivitäten konzentrierte sich über viele Jahre auf die Arbeit an dem Historischen Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe,(Anm. 6) dessen erster Band jetzt erschienen ist und das 2002 abgeschlossen sein wird. Dieses Projekt, dessen Anfänge in die Arbeit des Zentralinstituts für Literaturgeschichte in der AdW zurückreichen, repräsentiert den Übergang von der für Akademien typischen Forschungsstruktur der Langzeitprojekte zu der themenbezogenen, jeweils befristet durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projektstruktur des ZfL. Mit diesem Wörterbuch wird erstmals ein systematischer, begriffshistorischer Überblick über ausgewählte Grundbegriffe ästhetischer Theorie und Praxis in der europäischen Kultur seit der Aufklärung vorliegen, der seine besondere Bedeutung nicht zuletzt dadurch erlangen kann, daß die Ästhetik aufgrund der Entwicklungen in den Fächern Philosophie und Literaturwissenschaft weitgehend aus dem Bestand des universitär vermittelten Wissens verschwunden ist. In der Zange zwischen der Dominanz analytischer Philosophie und der sozialgeschichtlichen und systemtheoretischen Orientierung der Literaturwissenschaft ist die Ästhetik in den 70er und 80er Jahren in den Universitäten der alten Bundesländer nahezu zu einer terra incognita geworden. Insofern konnte hier an eine spezifische Tradition von Ästhetik in der DDR angeschlossen werden, die sich gegen eine Ästhetik als Teilgebiet “zünftiger Philosophie” an der Universität richtete. Stellt die Ästhetik das exemplarische Feld eines Mischwissens dar, das zwischen den Disziplinen oszilliert, so spannt sich der Bogen in diesem Falle von einer Ästhetik als Theorie der Schönheit über die Philosophie der Kunst bis hin zur Aisthesis als Theorie der Wahrnehmung inklusive ihrer physiologisch-medialen Bedingungen. Im Umfeld der Arbeit am Wörterbuch sind umfangreiche Studien zur Geschichte ästhetischen Denkens und zur Geschichte und Theorie sinnlicher Wahrnehmung, zur Hierarchie der Sinne wie auch zu Diskursen ihrer Normierung und Pathologisierung etc. entstanden.

Im engen Zusammenhang damit stand das inzwischen abgeschlossene Projekt einer Kultursemiotik, das sich einer vergleichenden Zeichentheorie der Künste und ihrer medialen Bedingungen widmet und diese für drei signifikante historische Konstellationen erforscht hat. Nach dem ersten Band Von Gorgias bis Lukrez. Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie von Michael Franz (1999) ist gerade der zweite Band Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert herausgekommen, und im nächsten Jahr wird der das Projekt abschließende dritte Band Electric-Laokoon. Medientheorie und Semiotik der Künste im 20. Jahrhundert erscheinen.

Aufgrund der Tatsache, daß im ZfL – anders als in den zumeist nationalsprachlich organisierten Literaturwissenschaften – Wissenschaftler verschiedener Philologien (Germanistik, Anglistik, Romanistik, Hispanistik, Amerikanistik, Slavistik) und Vertreter angrenzender Disziplinen (wie Kunstgeschichte, Philosophie, Medien- und Wissenschaftsgeschichte, Religionswissenschaft) versammelt sind, eröffnen sich hier hervorragende Bedingungen für vergleichende Studien zu grundlegenden Konzepten und Fragen der Literaturgeschichte und -theorie. In diesen Kontext gehört ein Projekt über den auktorialen Diskurs in der russischen und westeuropäischen Moderne und eines, das die Moderne beider Amerika im intermedialen und kulturellen Transfer zwischen Nord- und Südamerika untersucht. Aus beiden Projekten, die im Jahre 2000 abgeschlossen werden, liegen bereits zahlreiche Publikationen vor. Das gilt auch für das Projekt über die Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft seit 1945 – Veränderungen des Literaturbegriffs, das ebenfalls in diesem Jahr abgeschlossen wird.

Während es bei dem zuletzt genannten Projekt um einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des eigenen Faches ging, werden mit einem neu etablierten wissenschaftshistorisch ausgerichteten Forschungsschwerpunkt die Bahnen der Disziplinengeschichte verlassen. Im Hinblick auf diesen neuen Schwerpunkt widmet sich die Jahrestagung des ZfL im Oktober dem Zusammenhang von Literaturforschung und der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. Die Forschungen zu diesem Zusammenhang sind in der deutschsprachigen Wissenschaft sichtlich unterentwickelt – im Vergleich zur internationalen Diskussion, wo sich in dem Bereich der Philosophy and History of Sciences sehr deutlich ein cultural turn abzeichnet, in dessen Kontext genuin literaturwissenschaftliche Termini wie Sprache, Text, Schrift, Repräsentation, Narration, Metapher etc. einen zentralen Stellenwert erhalten haben. Nicht zuletzt aufgrund der Aufmerksamkeit für die Writing Sciences-Analyse und für die Diskurs- und Metapherngeschichte natur- und sozialwissenschaftlicher Konzepte und Denkweisen hat sich, vor allem in der anglo-amerikanischen Wissenschaft, ein gewichtiger Forschungsbereich mit dem Titel Literature and Sciences etabliert. Wenn das ZfL sich mit seinen künftigen Vorhaben in diese Debatten einschalten wird, dann soll das allerdings mit Rückbezug auf die oben erörterte Tradition der Philologie geschehen. Vor diesem Horizont wird sich ein Hauptaugenmerk in dem zu etablierenden Forschungsschwerpunkt – am Beispiel einiger paradigmatischer Konzepte und historischer Konstellationen – auf die Rekonstruktion der Trennungsgeschichte von Natur- und Geisteswissenschaften konzentrieren: auf Momentaufnahmen aus deren Genese und Durchsetzung, in denen sich Leitwissenschaften und kulturell-ästhetische Leitmetaphern in signifikanter Weise gegenüberstehen oder aber überschneiden.

Ein anderer Forschungsschwerpunkt ist in diesem Jahr neu begründet worden. Er widmet sich der Re-Vision einer europäischen Literaturgeschichte im Lichte neuerer Betrachtungsweisen, in denen die Literaturforschung mit kultur- und medientheoretischen Aspekten unterfüttert wird: Literatur und Künste im Kontext europäischer Transformationsprozesse. In fünf Projekten soll das genuine Feld der Neueren Literaturgeschichte, die europäische Literatur seit der Neuzeit, mit Hilfe theoretischer Perspektiven untersucht werden, die nicht nur die Grenzen nationalphilologischer Betrachtungsweisen überschreiten, sondern u.a. auch nach den Voraussetzungen fragen, die die Gegenstände der etablierten Literaturgeschichte überhaupt erst begründen. Während sich viele innovative Tendenzen der Literaturwissenschaft in den letzten Dekaden entweder einer Neubestimmung und Ausweitung ihrer Gegenstände (Dekanonisierung von Epochen und Gattungen, fremde Kulturen, gender-Perspektive) oder aber einer dekonstruktiven Relektüre tradierter Texte gewidmet haben, geht es hier eher darum, einige der methodischen Anregungen, die einer kultur- und medientheoretischen Wende der Literaturwissenschaft geschuldet sind, im strengen Sinne zu historisieren, d.h. für eine veränderte Betrachtung der genuinen Gegenstände der Literaturforschung zu erproben und fruchtbar zu machen. Den historisch ausgreifendsten Rahmen (15. bis 18. Jahrhundert) umfaßt das Projekt EUROPA. Aufschreibesysteme aus Codes, Medien und Künsten, in dem es um exemplarische Schnittstellen der Künste mit jenen Wissenschaften und Techniken geht, die das Bild von Europa überhaupt erst begründet haben. Anstelle einer national-vergleichenden Perspektive werden damit also die dem Nationalen vorausgehenden medialen Verfahrensweisen untersucht, die zur Konstitution der europäischen Tradition beigetragen haben und in denen spezifisch künstlerische Topoi einen zentralen Ort einnehmen. Innerhalb dieser Geschichte spielt die Etablierung von Körperschaften bzw. von Realfiktionen des sozialen Körpers (mit Ernst Kantorowicz' 'zwei Körper des Königs') eine nicht unwesentliche Rolle. Für das Problem der Repräsentation des kollektiven Körpers und die Versuche, das Verhältnis von Einzelkörper und Körperschaft symbolisch zu 'lösen', sollen im Projekt zur Poetologie der Körperschaften literaturwissenschaftliche Methoden – vor dem Horizont der sozial- und rechtsphilosophischen Erörterungen des Problems – nutzbar gemacht werden, um so einen Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Theorie des (sozialen) Imaginären zu erarbeiten. Daß die Konstitution von Körperschaften in Europa sich vor allem im Feld der vielfältigen Transformationen zwischen (christlicher) Kirche und Nation ereignet, verbindet diesen Fokus mit dem Projekt zu Figuren des Sakralen in der Dialektik der Säkularisierung. Hier geht es sowohl um kulturelle oder literarische Phänomene und Praktiken an exemplarischen Übergängen zwischen religiösem und säkularem Denken in verschiedensten historischen Konstellationen (z.B. Vernunftsreligion in der Aufklärung) oder poetischen Verfahren (Übersetzung 'heiliger' Schriften) als auch um die Referenz moderner Sprach- und Literaturtheorien auf sakrale und biblische Konzepte in der Moderne. Mit ihrer Bezugnahme auf eine jenseits des Menschen angesiedelte Legitimität der Kultur stehen deren Autoren in einer Spannung zum emphatischen Subjekt der europäischen Literatur der letzten 200 Jahre, das in dem Projekt Der Solitär untersucht wird, in dem es um den herausragenden Phänotyp des Schriftstellers in der Moderne geht. In einer Serie exemplarischer, autorbezogener Studien soll hier das Bild des autonomen bzw. 'freien Schriftstellers' in seiner Ambivalenz zwischen Einsamkeit und gesamtgesellschaftlicher Verantwortung profiliert werden. In dem Projekt zur Antike-Rezeption 2000 schließlich soll die auffällige Renaissance und zentrale Bedeutung der Antike in der Literatur, Theorie und Wissenschaft seit den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts befragt werden, die sich gerade nicht unter dem Vorzeichen einer Reetablierung der Tradition ereignet. Vielmehr dienen in dieser Antiken-Rezeption, die im Kontext einer neuen Archäologie der Antike zu sehen ist, exemplarische Texte aus dem Kanon häufig als Transformationsriemen für die Ausarbeitung alternativer oder neuer Theorien und Denkmodelle (wie z.B. in der gender-Theorie oder der Dekonstruktion).

Das ZfL – eines von sechs Geisteswissenschaftlichen Zentren in der neuen Bundesrepublik

Das Zentrum für Literaturforschung ist eines von drei Geisteswissenschaftlichen Zentren in Berlin, die 1996 gegründet worden sind. (Anm. 7) Zusammen mit drei weiteren Zentren in Potsdam und Leipzig (Anm. 8) ist die Genese dieser Forschungseinrichtungen mit der Geschichte der Vereinigung beider deutscher Staaten und der Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) im Jahre 1990 verknüpft. Die Frage nach dem Verbleib jener Forschungsvorhaben und Wissenschaftler, die eine mehrstufige Evaluierung positiv durchlaufen hatten, deren wissenschaftliche Beiträge unbedingt fortgesetzt werden sollten und zunächst nach Auflösung der AdW von der “Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben mbH” unter der Regie der Max-Planck-Gesellschaft betreut wurden, warf erneut ein Licht auf das sattsam bekannte extreme Defizit an geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen in der alten Bundesrepublik. Dabei galt dieser Befund nicht nur gegenüber der DDR, sondern auch im internationalen Vergleich – beispielsweise mit den zahlreichen Advanced Studies-Instituten in den USA oder mit Einrichtungen wie dem CNRS in Paris. Im Bereich der deutschen Forschungsförderung hat die Rede von “zwei Kulturen”, die aufgrund der jüngeren Entwicklungen ohnehin obsolet geworden ist, noch nie einen Sinn gehabt. Denn in förderungspolitischer Hinsicht haben die Geisteswissenschaften in der alten Bundesrepublik allenfalls ein bescheidenes Dasein im Schatten der Naturwissenschaften geführt.

Sind die weitgehend vom Bund finanzierten Forschungsinstitute wie die der ‚Blauen Liste‘ oder der ‚Fraunhofer Gesellschaft‘ ohnehin fast ausschließlich im Bereich der Naturwissenschaften angesiedelt, so sind auch heute noch von den 80 Max-Planck-Instituten lediglich sechs im engeren Sinne, maximal 13 im weiteren Sinne in das Feld der Sozial- und Geisteswissenschaften einzuordnen. Und im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschung, in deren Sparten die Geisteswissenschaften – neben den Natur-, den Bio- und den Technikwissenschaften – ohnehin nur noch eine von vier Gruppen bilden, ist ihr Förderungsanteil mit nur 15% vom Gesamtvolumen weit unterproportional. Insofern wurde mit der Empfehlung des Wissenschaftsrats zur Gründung der Geisteswissenschaftlichen Zentren diesbezüglich eine gewisse Korrektur vorgenommen. Da aber die vertraglich gesicherte vorläufige Laufzeit der GWZ nur zwölf Jahre beträgt und insofern Ende 2007 vorerst ausläuft, (Anm. 9) ist die weitere Perspektive ungewiß. Nicht nur durch diese begrenzte Laufzeit, sondern auch durch ihre Förderstruktur sind die Zentren zudem dauerhaften Forschungseinrichtungen wie den Max Planck Instituten nicht vergleichbar. Während die Mittel für die Grundausstattung, die etwa ein Drittel des gesamten Haushaltsvolumens ausmachen soll, vom Land Berlin kommen, ist vereinbart, daß zwei Drittel mit Forschungsanträgen bei der DFG eingeworben werden. Mit dieser Bindung an die Förderung von zeitlich befristeten, themenbezogenen Forschungsprojekten ist die Perspektive einer langfristigen Grundlagenforschung allerdings nur bedingt realisierbar.

Anmerkungen

(1) Zu diesem Zweck gibt es den jährlichen Jahresbericht der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin (GWZ), erhältlich bei den GWZ, Jägerstr. 10/11, 10117 Berlin, auch per e-mail zu bestellen.

(2) Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Frankfurt/M. 1990. S. 30.

(3) Alle Zitate aus Friedrich Schlegel: Philosophie der Philologie. Ediert von Josef Körner. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Bd. XVII. 1928.

(4) Vgl. die Debatte, die im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1997ff. unter der Frage, ob der Literaturwissenschaft in Anbetracht kulturwissenschaftlicher Umorientierung ihr “Gegenstand abhanden” kommt, geführt wurde.

(5) Vgl. Staatsvertrag zur Deutschen Einheit, Artikel 38, Wissenschaft und Forschung (2).

(6) Die Hauptgeschäftsstelle des Wörterbuchs befindet sich im ZfL, eine zweite am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Johann Wolfgang v. Goethe Universität Frankfurt/Main.

(7) Zu dem Verein “Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin” gehören ferner das Zentrum Moderner Orient” und das Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft, Typologie und Universalienforschung".

(8) In Potsdam befinden sich das “Zentrum Zeithistorische Studien” und das Zentrum Europäische Aufklärung, in Leipzig das Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas.

(9) Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Berlin und dem Verein Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V. von 1996.