Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)

Aus Berliner Archiven

Trajekte 20
Berlin 2010, 52 Seiten
ISSN: 1616-3036

I. Neues aus Berliner Archiven

  • Archiv und Zukunft. Zwei historische Tonsammlungen Berlins für das Humboldt-Forum (Britta Lange)
  • Das verrückte Inventar. Über ver/schränkte Wissensräume im Museum (Daniela Döring)
  • Fortlaufende Modernisierung. Analoge Filmarchive im digitalen Zeitalter (Daniel Meiller)

II. Archive des ZfL

  • Der Nachlass Jacob Taubes am ZfL. Ein Werkstattbericht nebst einem Schreiben von Jacob Taubes an Carl Schmitt (Herbert Kopp-Oberstebrink/ Martin Treml)
  • Susan Taubes – Bilder aus dem Archiv (Christina Pareigis)

III. Fallgeschichten aus der Berliner Wissenschaftsgeschichte

  • Aussicht vom Zettelgebirge. Zur Datenverarbeitung in Alexander von Humboldts Manuskripten der Kosmos-Vorlesungen (Dominik Erdmann/ Christian Thomas)
  • "Archive für Litteratur!". Wilhelm Dilthey und die Anfänge der Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin (Herbert Kopp-Oberstebrink)
  • „Ungeklärte Umstände“. Warum der Berliner Romanist Max Leopold Wagner 1925 die Universität verließ (Dirk Naguschewski)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Wie schon die Nummer 10 fällt auch diese Nummer 20 der Trajekte aus dem Rahmen und dehnt die Rubrik Aus dem Archiv auf das ganze Heft aus. Das zehnjährige Erscheinen der Trajekte im fünfzehnten Jahr des Bestehens ist für das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung durchaus eine Wegmarke auf den mit vielen Erfolgen gepflasterten, doch trotz allem noch unbefestigten, aber auch unzementierten Pfaden einer jungen Forschungseinrichtung. Mit diesem kleinen Jubiläum gesellen wir uns zu den Großjubilaren des Berliner Wissenschaftsjahres und widmen diese Nummer einer Reihe von Einblicken in verschiedene Berliner Archive.

FÜR EINE ARCHÄOLOGIE DES ARCHIVS
Dieses Heft enthält Beiträge zu einer Archäologie des Archivs – dies allerdings in einem sehr viel buchstäblicheren und materielleren Sinne, als Michel Foucault es je gemeint hat, dessen Archäologie des Wissens (1969, dt. 1973) das kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Interesse am Archiv beflügelt hat. Wenn Foucault das Archiv als "das Gesetz dessen, was gesagt werden kann," definiert, als "System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht", dann bezeichnet das Archiv bei ihm diejenigen Prozeduren, nach denen Diskurse reguliert und Wissen generiert werden. Im Zentrum dieses Heftes stehen dagegen konkrete Archive, Orte, an denen unterschiedlich geartete Bestände gesammelt, bewahrt, geordnet, bearbeitet und für die Nutzung zugänglich gemacht werden: An ihnen sind unterschiedlichste Objekte gelagert, Dokumente und Quellen, Nachlässe und andere Hinterlassenschaften, Handschriften, Drucke, Bild- und Tonträger sowie vieles andere mehr.
Eine Archäologie solcher Archive offenbart deren häufig wechselvolle Geschichte, die sich im gegenwärtigen Zustand selten unmittelbar zeigt. Unterschiedliche Katalogsysteme, die auf den Wechsel von Medien und Kulturtechniken zurückgehen – etwa von Bestandsbüchern über Karteikarten zu digitalen Verzeichnissen –, sind oft das auffälligste Anzeichen für die Geschichtlichkeit von Archiven. Häufig betrifft die Entstehungs- und Vorgeschichte aber nicht das Archiv als ganzes. Die Zusammenführung von Sammlungen, die Teilung und räumliche Verlagerung ebenso wie deren wiederholte Reorganisation nach veränderten Kriterien führen dazu, dass sich im Archiv oft zahlreiche Bestände unterschiedlicher Provenienzen versammeln. Erst über eine Archäologie von Archiven in diesem konkreten Sinne erschließt sich der historische Index einzelner Sammlungen, ähnlich wie im jüngst restaurierten und wiedereröffneten Neuen Museum in Berlin nicht nur Objekte aus fernen Zeiten oder von fernen Schauplätzen ausgestellt sind, sondern dort jeweils im Zusammenhang eines spezifischen Ausgrabungsvorhabens präsentiert werden. Auf diese Weise wird erkennbar, dass die Ausstellungsstücke nicht nur Spuren ihrer Herkunft, sondern auch Signaturen ihrer Auffindung und des dabei virulenten Erkenntnisinteresses tragen. Damit erhält Walter Benjamins Allegorie des Gedächtnis-Schauplatzes, die unter dem Titel Ausgraben und Erinnern bekannt ist, einen ganz konkreten Sinn: "Denn der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch […] Ort und Stelle des Findens selbst in der Niederschrift bewahrt."
Die Fallgeschichte einer solchen Archivarchäologie wird in dem Beitrag von Britta Lange erzählt. Die wechselvolle Entwicklung einer Berliner Sammlung mit Tonträgern von Stimmen aus dem Umfeld des Ersten Weltkriegs führt in das geplante Humboldt-Forum in Berlins Mitte. Wo die Besucher fremde Welten kennenlernen sollen, werden diejenigen, die die dort einmal versammelten Archive nutzen, zugleich mit einem kolonial motivierten Sammlungsinteresse des ‚Deutschen Reiches’ konfrontiert. Dagegen untersucht Daniel Meiller diejenigen Veränderungen, die zwar auf alle Archive im digitalen Zeitalter zukommen, in besonderer Weise aber auf solche, bei denen nicht nur die Archivierung elektronisch umgestellt wird, sondern deren Gegenstände selbst vom medientechnischen Fortschritt betroffen sind. Der Artikel verfolgt vor allem das Problem des Umgangs mit dem Bestand analoger Filme in der gegenwärtigen Praxis von Filmarchiven, die im Fahrwasser der Filmproduktion längst digital organisiert und ausgerüstet sind. Eine der ältesten Techniken des Archivs diskutiert der Beitrag von Daniela Döring, in dem die Redewendung vom "Schlüssel zum Archiv" eine handfeste Bedeutung erhält. Nur wer den Schlüssel zu den Schränken des Archivs in der Hand hat, verfügt über den vollständigen Zugang zu den Beständen. In ihrem Artikel geht es um die Art und Weise, wie die Inventarisierungs-, Ordnungs- und Verschlussfunktion des Schrankes im Archiv Räume des Wissens im wörtlichen Sinne entstehen lässt.

ARCHÄOLOGIE UND IDEENGESCHICHTE
Foucault hat seine Methode der Archäologie im Kontrast zur Ideengeschichte konzipiert. In einem der vier Prinzipien seiner Abgrenzung heißt es: "Die Instanz des schöpferischen Subjekts als raison d’être eines Werkes und Prinzip einer Einheit ist ihr fremd." Ganz im Gegensatz dazu ist es gerade die Arbeit intellektueller Subjekte, die die beiden im ZfL befindlichen Archive begründet: das Archiv Susan Taubes und der Nachlass Jakob Taubes. In beiden Fällen geht es darum, die jeweiligen Hinterlassenschaften zu sichten, zu ordnen und zu edieren, wobei edieren ein schlichtes Wort ist für die aufwendige Recherche zu den Kontexten und Hintergründen, den Themen und Motiven, den Adressaten und Namen, von denen in den Briefen der beiden die Rede ist. Durch deren Erforschung, die umfangreiche Recherchen in zahlreichen, weit zerstreuten anderen Archiven umfasst und schließlich in die Auswahl, Anordnung und Kommentierung der zu edierenden Korrespondenzen eingeht, werden die Hinterlassenschaften von Jacob Taubes und Susan Taubes als Teil einer intellectual history der Bundesrepublik und der europäisch-amerikanisch-israelischen Nachkriegszeit lesbar. Die für die am ZfL befindlichen Archive verantwortlichen Wissenschaftler – Christina Pareigis für das Archiv Susan Taubes, Martin Treml und Herbert Kopp-Oberstebrink für den Nachlass Jacob Taubes – geben in ihren Beiträgen Einblicke in ihre Arbeit und dokumentieren bisher unpublizierte Texte und Bilder aus den Nachlässen. In diesen Fällen ist es also nicht so, dass das Archiv der Ideengeschichte entgegensteht, vielmehr ermöglichen die Archive mit den Nachlässen "schöpferischer Subjekte" aufschlussreiche Einblicke in die Ideengeschichte und deren Verquickung mit den Biographien.
Die Frage nach der Verquickung zwischen Persönlichkeit und Ideengeschichte – in diesem Fall betrifft sie die Öffnung der romanistischen Sprachwissenschaft der Zwischenkriegszeit für neue, kulturwissenschaftliche Fragestellungen – steht im Zentrum des Beitrags von Dirk Naguschewski. Er rekonstruiert die Fallgeschichte von Max Leopold Wagner aus den Dokumenten des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität - soweit solche Dokumente eine Aufklärung über die "ungeklärten Umstände’ zulassen, die zur Entlassung des homosexuellen Professors geführt haben.

DOKUMENTE UND MONUMENTE
Auch altehrwürdige, viel genutzte Archive bergen immer wieder Überraschungen. Von einer solchen berichten Dominik Erdmann und Christian Thomas in ihrem Artikel über die Entwurfshandschriften zu Alexander von Humboldts berühmten Kosmos-Vorlesungen aus den Jahren 1827/28, die sich in seinem Nachlass in der Staatsbibliothek Berlin befinden. Durch deren Studium muss die Legende, Humboldt habe die Vorlesung in "freier Rede" gehalten, korrigiert werden; andererseits verdichtet sich mit diesem Konvolut die Schichtung der verschiedenen Kosmos-Manuskripte. Der Artikel erörtert die Konsequenzen, die dies für die textkritische Analyse des Verhältnisses hat, in dem Universitätsvorlesung (bzw. deren Mitschriften), populäre Vorlesung und die viel spätere Buchpublikation von 1845 stehen – ein faszinierendes Textgeflecht, das nun genauer untersucht werden kann. Einem anderen bedeutenden Berliner Nachlass ist der Beitrag von Herbert Kopp-Oberstebrink gewidmet, der auf unpublizierten Dokumente aus dem Umfeld von Wilhelm Diltheys Rede Archive für Literatur (1889) und der von ihm initiierten Gesellschaft zur Gründung eines deutschen Literaturarchivs basiert, insbesondere einer nachgelassenen Variante zur Rede und den Statuten der Gesellschaft.
Allein die Tatsache, dass Diltheys Nachlass, der zum Bestand des Archivs der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehört und sich damit nicht an der Seite desjenigen Alexander von Humboldts befindet, muss aus der Sicht Diltheys als Enttäuschung seines Plädoyers für besondere, von den Bibliotheken getrennte Literaturarchive, in denen die Handschriften aller bedeutender literarischer und wissenschaftlicher Autoren vereint werden, bewertet werden. Am Ende der Rede wird die ganze Zweischneidigkeit von Diltheys Programm deutlich. Kann jene einerseits als Gründungsurkunde der nationalen Literaturarchive in Deutschland gelten, so stellt sie sich zugleich als ein Programm dar, in dem die Dokumente der Literaturgeschichte in nationale Monumente verwandelt werden. Denn sein Vorschlag, so Dilthey, verknüpfe "das Interesse der zeitlosen Wissenschaft" mit "der Pflege unseres nationalen Bewusstseins". Solche "Stätten, an denen die Handschriften unserer großen Schriftsteller erhalten und vereinigt lägen, die erhaltenen Büsten und Bildnisse darüber, wären Pflegestätten der deutschen Gesinnung. Sie wären eine andere Westministerabtei, in welcher wir nicht die sterblichen Körper, sondern den unsterblichen idealen Gehalt unserer großen Schriftsteller versammeln würden." Insofern ist es kein Zufall, dass Diltheys Archive für Literatur die Deutschen als herausragende Kulturnation bewertet, in deren geistiger Leistung die gesamte geistige Entwicklung von Antike, Abendland und europäischer Neuzeit gipfelt. Das Literaturarchiv bezeichnet in Diltheys Verständnis "alle dauernd wertvollen Lebensäußerungen eines Volkes, die sich in der Sprache darstellen: also Dichtung wie Philosophie, Historie wie Wissenschaft."
Im Blick auf die Art und Weise, wie hier das Bewahren und Pflegen der Dokumente sich in nationale Gesinnungspflege verwandelt, muss Foucault noch einmal widersprochen werden. Mit seiner Gegenüberstellung von Archäologie und Ideengeschichte wendet er sich nämlich gegen die Behandlung des Diskurses "als Dokument, als Zeichen für etwas anderes", wogegen sich die Archäologie "an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument" wende. Es verhält sich genau umgekehrt: Als Monument wird ein Archiv zum Zeichen für etwas anderes, im Falle von Diltheys Literaturarchiv zum Symbol der Kulturnation. Hingegen sollte sich alle Aufmerksamkeit und Anstrengung, alle Methode und Technik von Archiven auf die Dokumente richten: auf deren materielle Erhaltung und transparente Ordnung. Die Lektüre und Deutung sollte jeder Zeit und Generation selbst überlassen bleiben.
Die gegenwärtige Archivdebatte handelt vor allem von der Spannung zwischen dem Archiv als kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Metapher auf der einen Seite und dem konkretem Ort des Sammelns, Bewahrens und Ordnens von Dokumenten auf der anderen Seite. Hinter dieser Kontroverse ist die Problematik ideologischer Verwicklungen von Sammlungsinteressen und -praktiken in Vergessenheit geraten. Da nach 1989 viele deutsche Archive mit der Aufgabe einer grundlegenden Reorganisation konfrontiert sind – der Umbau der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar der DDR in die Klassik Stiftung Weimar ist das herausragende Beispiel – stellt sich die Frage der Beziehung zwischen Archivpolitik und Erbevorstellung gegenwärtig besonders deutlich. Eine archäologische Erforschung der in einzelnen Archiven verkörperten Archivkonzeptionen kann die in der Ordnung des Archivs sedimentierten Schichten seiner Herkunft und Vorgeschichte lesbar machen. Insofern muss eine ebenso praktisch wie theoretisch und historisch informierte Archivwissenschaft neben den Methoden und Techniken für das Sammeln, Bewahren, Ordnen und Erschließen der Dokumente auch ein Wissen um die Geschichte von Archiven umfassen.

Sigrid Weigel