Zentrum für Literaturforschung (Hg.)
[Vergriffen!]

Heft 7

Trajekte 7
Berlin 2003, 48 Seiten
  • Aus dem Archiv
    Abschreibesysteme. Wilhelm Fließ' Plagiatsaffäre (Mai Wegener)
  • Bildessay
    Isabell Heimerdinger. Terri Watching Gloria again (Ursula Frohne)
  • WissensKünste II
    Bilder jenseits des Bildes - Pictures Beyond the Picture (Sabine Flach)
    Porträts (Sandra Mühlenberend/Sonja Mählmann)
  • Tagung
    Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften. Schlüssel für die Wissensgesellschaft
  • Literaturtage
    Erinnerung und Fiktion. Literarische Schreibweisen im Archiv der deutschen und europäischen Geschichte
  • Jahrestagung
    Fälschungen. Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten (Sigrid Weigel/Anne-Kathrin Reulecke)
  • Korrespondenzen
    True Crime: 'the tremor of forgery' (Mark Seltzer)
    Fälschung am Ursprung. Johann Beringers 'Lithographiae Wirceburgensis' (1726) und die Erforschung der natürlichen Welt (Anne-Kathrin Reulecke)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Thesaurus oder tabula rasa. Zur europäischen Rezeption eines russischen Kulturstreits von 1920 (Franziska Thun-Hohenstein)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Sigrid Weigel

Ein Gespenst geht um in Forschungszentren, Universitäten und den Einrichtungen zur Forschungsförderung, die Fälschung: gefälschte Daten, von anderen Forschern übernommene Versuchsreihen und Plagiate, - und selten ist jemand zur Verantwortung zu ziehen, weil die Institutionalisierung und Entpersonalisierung der wissenschaftlichen Arbeit, die Tendenz zu großen Forschergruppen mit kollektiver Autorschaft und zu arbeitsteilig durchgeführten Experimenten es immer schwieriger machen, exakt jene Stelle auszumachen, an der die übliche Auswertung und Interpretation von Daten in Betrug übergehen oder der Anschluß an vorliegende Ergebnisse, Thesen und Erklärungsmodelle in die Aneignung fremden geistigen Eigentums umschlägt. Wie wenig Fälschungsvorwürfe in den Wissenschaften einer Aufklärung und juristischen Klärung zugänglich sind, hat sich im fast 10jährigen Verfahren um den Baltimore-Fall gezeigt, in dem die gegenseitigen Anschuldigungen der streitenden Parteien durch die Analyse von Laborheften und anderen Forschungsunterlagen überprüft werden mußten. Dieser Fall hat zugleich deutlich gemacht, wie stark derartige Verdächtigungen durch den Wettlauf um neue (nobelpreisverdächtige) Versuchsergebnisse kontaminiert sind.(1)

Da die Medien in der Öffentlichkeit ohnehin latent unter Verdacht stehen, es mit den Fakten nicht so genau zu nehmen, konnten die vorausgegangenen Skandale um die gefälschten Hitler-Tagebücher und um gestellte Dokumentarsendungen im Fernsehen relativ problemlos im System der Medien – gleichsam selbstreferentiell - verarbeitet werden: durch Entlarvung und Publikation der fragwürdigen Informationen: Fakten über gefälschte Fakten. Allerdings wurde zur gleichen Zeit der Wunsch nach Information und Dokumentation der Ereignisse durch die Entwicklung der elektronischen Bildtechnik und durch das realpolitische Zusammenspiel von Kriegsführung und Berichterstattung weitgehend überholt.

Im Kunstbetrieb dagegen ist die Identifizierung von Original und Fälschung zu einem erfolgreichen, technisch hochgerüsteten Geschäft geworden, das sich jedoch vorwiegend an den alten Bildern erprobt, während die moderne Kunst sich dem Fälschungsparadigma entzogen hat: zum einen, indem sie bereits die kuratorische Arbeit zur Erhaltung der Kunst zum Eingriff ins ‚Werk‘ zwingt (wie anhand der Beuysschen Fett-Objekte diskutiert wurde), zum anderen dadurch, daß das Konzept des Originals längst durch Verfahren von Kopie, Fake Simulacrum und Aneignung ad absurdum geführt wurde (vgl. den Bildessay von Isabell Heimerdinger). Auch die subtilen philologischen Verfahren der Text- und Quellenkritik, die ebenfalls (etwa mit Hilfe chemischer Techniken) aufgerüstet wurden, können überwiegend nur auf historische Archive der Schriftkultur angewandt werden, während die Computerisierung der Schrift sich diesen Methoden entzieht (wie das Schwinden literarischer Nachlässe im Zeitalter des PCs ebenso anzeigt wie der Rechtsstreit um die Vernichtung von Daten in Kohls Kanzleramt).

Doch nun scheint die Unsicherheit über die Authentizität von Daten, Ergebnissen und Texten auch an jenem Ort angelangt zu sein, der bislang als Hort exakter Methoden galt, in den Wissenschaften. Insofern hat die Öffentlichkeit besonders aufgeschreckt auf die Fälschungsfälle in der Physik und in der Krebsforschung reagiert, zählen doch beide Fächer zu den als objektiv und exakt arbeitend geltenden Naturwissenschaften, wohingegen Streitigkeiten um Plagiat und Ideendiebstahl die kulturelle Öffentlichkeit mindestens solange schon begleiten, wie die Vorstellung vom geistigen Eigentum existiert, d.h. seit der Entstehung von Autorschaft und Urheberrecht (vgl. dazu Wilhelm Fließ' Plagiatsaffäre AUS DEM ARCHIV).

Dabei steht in Frage, ob es sich bei den Wissenschaftsfälschungen tatsächlich um ein neues Phänomen handelt, das Umbrüche im System signalisiert, oder ob wir einem Phantom aufsitzen, indem eine Serie von „Fällen“, die durch die Massenmedien kursieren, sich zu einer neuen „Tatsache“ verdichtet. Die einen behaupten, in den Wissenschaften wurde schon immer gefälscht, sei es in Form geringerer oder größerer Korrekturen von Daten oder Beobachtungen und deren Einpassung in eine entdeckte Gesetzmäßigkeit, sei es durch die Herstellung oder Manipulation von Fundstücken oder Quellen, sei es durch Plagiate. Andere meinen, daß das System von Konkurrenz, das System des peer review wissenschaftlicher Zeitschriften und das Gutachterwesen der Forschungsförderung zunehmend Mogeleien begünstige bzw. decke. Und wieder andere sagen, es handele sich bei den jüngsten Fälschungsskandalen in der Wissenschaft um bedauerliche, aber untypische Einzelfälle.

Ehe aber solche Fragen erörtert werden, ist es ratsam, sich zunächst über die Genese, Bedeutung und Herkunft der ‚Fälschung‘ selbst Klarheit zu verschaffen. Die Tatsache z.B., daß mittelalterliche Quellen sich offensichtlich indifferent gegenüber der Fälschung verhalten, verweist auf einen historisch relativen Geltungsbereich, der besonders das Feld der Überlieferung betrifft. Dasselbe gilt für die Kategorien von Original und Autorschaft, an denen Fälschungen in Literatur und Kunst gemessen werden. Überhaupt scheint eine Fälschung erst dort möglich, wo wir es mit Artefakten zu tun haben, ¬ und das gilt auch, wo Beweisstücke hergestellt, Artefakte also als Naturgegenstände ausgegeben werden, wie paradigmatisch am Fall von Beringers Würzburger Figurensteinen aus dem 18. Jahrhundert studiert werden kann (vgl. den Korrespondenz-Artikel von Kathrin Reulecke). Von einer solchen Nachahmung von Fundstücken, die der Epoche der histoire naturelle angehört, unterscheiden sich aktuelle Datenmanipulationen dadurch, daß die Beweise empirischer Forschung nicht mehr mit Bestandteilen und Merkmalen „natürlicher“ Objekte (wie bearbeitet auch immer) operieren, sondern mit Daten, die mit Hilfe experimenteller Technologie gewonnen, also hergestellt werden. Die Fortschrittsgeschichte der Beweisverfahren in den Naturwissenschaften – vom Fundstück über natürliche Objekte, Zuchtobjekte und experimentelle Beobachtungen bis hin zu den Daten experimenteller Großversuche – ließe sich auch als Schwundgeschichte des Bedeutungsgehalts von Fälschung beschreiben. Insofern verdeckt die ubiquitäre Rede von Fälschungen gerade die Differenzen zwischen den verschiedenen Feldern von Kunst und Wissenschaft.

Diesem Thema ist die diesjährige Jahrestagung des ZfL gewidmet: Fälschungen – Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten. In einem interdisziplinären Gespräch sollen Herkunft, Reichweite und Varianten von Fälschungen erörtert werden. Zugleich ermöglicht das Thema eine Analyse der jeweils grundlegenden Gesetze und Konsensbildungen in den Bereichen von Medien, Kunst und Wissenschaften. Denn Fälschungsfälle sind nicht nur Symptom der, sondern auch Antworten auf signifikante Veränderungen in den jeweiligen Systemen. Insofern ist ihre Analyse geeignet, über methodische, kategoriale und epistemische Probleme in den Feldern Auskunft zu geben, in denen sie sich ereignen.

Den Perspektiven geisteswissenschaftlicher Forschung war bereits eine Tagung der GWZ im letzten Dezember gewidmet. Daran anschließend findet am 24./25. Oktober eine Kooperationsveranstaltung des ZfL mit der Volkswagenstiftung statt, auf der anhand des Förderprogramms Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften der Stand von Forschung und Forschungsförderung in den Geistes- und Kulturwissenschaften diskutiert werden soll. Was sind die Gründe dafür, daß die Geisteswissenschaften ins Hintertreffen geraten sind? Was können sie dagegen aufbieten? Und vor allem: was haben sie beizutragen zu den gegenwärtigen Umbrüchen in der Wissensgesellschaft? Welche Rolle spielt dabei der Brückenschlag zu den Naturwissenschaften?

Als gleichsam ambulante Laborakademie ist die Veranstaltungsreihe der WissensKünste angelegt, die das ZfL erstmals im von Oktober 2001 bis Juni 2002 zum Thema „LifeSciences – Kunst - Medien“ (in Kooperation mit dem Museum Hamburger Bahnhof) durchgeführt hat. Nun wird dieses Experiment, bei dem Künstler, Kultur- und Naturwissenschaftler jeweils ihre unterschiedlichen Zugänge zu demselben Thema präsentieren und gemeinsam diskutieren, fortgesetzt: mit vier Abenden zum Thema Bilder jenseits des Bildes. Dabei geht es um die Spannung zwischen dem „Ausstieg aus dem Bild“ in der Gegenwartskunst und dem sogenannten pictorial turn in den Wissenschaften. Das „jenseits“ im Titel verweist darauf, daß der mit dem pictorial turn bezeichnete Umbruch de facto keine Hinwendung zum Bild im konventionellen Sinne betrifft, sondern zu jenen zumeist technisch bzw. elektronisch produzierten Darstellungen jenseits ikonischer und alphabetischer Codes. Diese korrespondieren nicht nur mit Aufschreibesystemen, die der Trennung von Text und Bild vorausgehen, in ihnen ist die Darstellung auch häufig der Generierung von Daten gleichursprünglich, so daß sie sich nicht mehr ins Paradigma der Repräsentation fügen.

Angesichts der medialen Entwicklungen ist der Literatur schon seit einiger Zeit ihr baldiges Ende vorausgesagt worden. Ganz im Gegensatz zu diesen Endzeitprognosen erfährt die Literatur aber gerade eine Renaissance, nicht nur im Kinderbuch, sondern auch im Genre des Hörbuchs und in der Beliebtheit von Lese- und Literaturveranstaltungen. Als ob das (Vor)Lesen zur begehrten Stätte eines Innehaltens inmitten einer informationstechnologisch geprägten Kultur geworden wäre. Aber es ist auch Bewegung in die Literatur selbst gekommen, weniger durch die vom Neuen Markt des Literaturbetriebs für ein paar Jahre gepuschte „junge Literatur“, als vielmehr durch neue Schreibweisen, mit denen sich eine mittlere Generation von Schriftstellern jüngst durchaus alten Themen zugewendet hat, und zwar auf eine ganz eigene Weise, in der sich Fiktion und historische Recherche mischen. Dies ist Anlaß für die Literaturtage, die das Zfl im Dezember erstmals in Kooperation mit dem Literaturhaus in der Fasanenstraße veranstaltet. Zum Thema Erinnerung und Fiktion. Literarische Schreibweisen im Archiv der deutschen und europäischen Geschichte lesen und diskutieren Marcel Beyer, Norbert Gstrein, Katharina Hacker, Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl, Ursula Krechel, László Márton, Stephan Wackwitz, ergänzt durch einen Vortrag des Literaturwissenschaftlers Stephan Braese zur Literatur von Überlebenden (Goldschmidt, Kertesz und Semprun).

Neben diesen vier Veranstaltungen werden -- wie bereits in den vorausgegangenen Trajekten -- auch in der vorliegenden Ausgabe verschiedene Einblicke in die laufenden Forschungsarbeiten am ZfL präsentiert. Der Literaturwissenschaftler Mark Seltzer (von der UCLA), der sich von März bis Juni als Fellow am ZfL aufgehalten hat, diskutiert unter dem von Patricia Highsmith entlehnten Titel The tremor of forgery das Konzept virtueller Kriminalität im Kontext von Kriminalroman und Risikogesellschaft (Korrespondenzen); die Slavistin Franziska Thun stellt einen Ausschnitt aus ihren Arbeiten zum Transfer zwischen der russischen und der deutschen Moderne vor, mit einem Beitrag über Curtius‘ Rezeption von Ivanov und Gersenzons Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln von 1920 (Aus der Arbeit des ZfL) -- und am Endes des Heftes findet sich, wie üblich, die Übersicht über alle öffentlichen Veranstaltungen des ZfL in der Zeit von Oktober 2003 und Februar 2004.

Anmerkung

(1) Daniel J. Kevles: The Baltimore-Case. A Trial of Politics, Science, and Character, New York – London 1998.