Führung durch die Gemäldegalerie Berlin
21 Oct 2007 · 1.30 pm

Märtyrer und Abgefallene. Eine Kulturgeschichte des Martyriums in Bildern

Venue: Gemäldegalerie Berlin, Kulturforum am Potsdamer Platz, Matthäikirchplatz 4/6, 10785 Berlin

Program

Veranstaltung der Reihe zum Jahresthema des ZfL: Märtyrer. Schlüssel zum Verhältnis der Religionen und Kulturen

Zwischen Leben und Tod, Leiden und Triumph, Eros und Thanatos oszillierend, zählt der Märtyrer und Heilige zu den zentralen Bild-Topoi der Kunst- und Kulturgeschichte. Die gemeinsame Führung durch einen Theologen und einen Kunsthistoriker greift einige der berühmtesten Märtyrer heraus, die in der Kunst vom Mittelalter bis zum Barock als Leidens- und Sinnstiftungsfiguren dargestellt und von Künstlern wie Botticelli, Rubens und Tiepolo in ihr je eigenes Formenvokabular übersetzt wurden. Antike Märtyrer wie der Hl. Sebastian eigneten sich dabei besonders als kulturelle Bildmuster, um auf zeitgenössische Krisenerfahrungen aufmerksam zu machen. So erfuhr die Darstellung des Hl. Sebastian, der als Pestheiliger verehrt wurde, in Zeiten von Epidemien eine deutliche Konjunktur. Der Märtyrer und Heilige, dies zeigt das Beispiel, ist eine kulturelle Projektionsfigur, die in historisch variabler Weise aktualisiert wird.

Florian Schneider
Studium der Katholischen Theologie und Germanistik in Regensburg und Wien. Seit 2003 kunsthistorisch-theologische Führungen in der Reihe "Samstags um Elf" an der Berliner Gemäldegalerie. Schwerpunkte: Theologie des Neuen Testaments, Kirchengeschichte der Antike, Geschichte der Heiligenverehrung, Mariologie. Im Hauptberuf Kommunikationsberater.

Thomas R. Hoffmann
Studium der Kunstgeschichte und Geschichte in Trier und an der HU Berlin. Seit dem Jahr 2000 freier Mitarbeiter der Gemäldegalerie Berlin; seit 2002 Dozent an der Akademie der Staatlichen Museen zu Berlin. Schwerpunkte: flämische und niederländische Barockmalerei. Für den BelserVerlag (Stuttgart) zahlreiche Veröffentlichung, darunter mehrere Bücher der Reihe "Wie erkenne ich Kunst?"

Eintritt
Museumseintritt: Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre frei, Erwachsene 8,00 €, ermäßigt: 4,00 €; für die Führung fallen keine weitere Gebühren an. An beiden Führungen können maximal je 25 Personen teilnehmen. Anmeldung bitte an . Die für die Teilnahme an der Führung benötigten Zählkarten können vom 8.–12. Oktober 2007 im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Raum 335, 3. Etage, in der Zeit von 10–12 und 14–16 Uhr abgeholt werden (Tel. 030/20192-155/-171).

Treffpunkt für die Führungen jeweils 15 min. vor Führungsbeginn: Zentrale Eingangshalle, Information.
Märtyrer – Schlüssel zum Verhältnis der Religionen und Kulturen
Allenthalben ist eine Renaissance der Religionen in der Politik und Kultur zu verzeichnen – auch in solchen modernen Gesellschaften, die sich noch vor kurzem als weitgehend säkular betrachtet haben. In diesem Zusammenhang stellt die Wiederkehr des Märtyrermodells eine besonders beunruhigende Komponente dar. Mit den Selbstmordattentätern, die sich als Märtyrer verstehen und auch von ihren Gemeinschaften als solche verehrt werden, ist eine Figur auf den Schauplatz der Geschichte zurückgekehrt, von der das säkularisierte Europa annahm, dass sie längst vergangenen Zeiten angehört. Bei aller Fremdheit der Bilder, die durch die Medien von den internationalen Kampfschauplätzen übermittelt werden, gibt es stets auch Wiedererkennungsmomente: aufgrund der vielen religiösen Symbole, in denen nicht selten Zeichen der christlichen Ikonographie auftauchen, und aufgrund der Chiffren aus Pop- und Massenkultur, derer sich die Propaganda der Selbstmordattentate und die Verehrung ihrer Akteure bedient. Durch diese Bilder wird deutlich, dass hier auch Momente aus der europäischen Tradition im Spiele sind. Sie erinnern an bekannte Mythen und Deutungen aus der Geschichte der kollektiven Verarbeitung von Toten aus Kriegen, Gewaltherrschaft und Katastrophen.
Die Beschäftigung mit der vielfältigen Tradition von Märtyrern in der Kulturgeschichte erhellt nicht nur religiöse Zusammenhänge politischer Gewalt, sondern auch die Verbindungen und die Differenzen zwischen den drei monotheistischen Religionen. Denn die Verehrung von Märtyrern spielt sowohl in christlichen und islamischen als auch in jüdischen Kulturen eine zentrale Rolle. Zugleich schärft der Blick auf die Kontinuität und den Wandel von Märtyrermotiven die Sensibilität für die vergessenen, gleichwohl aber fortwirkenden Prägungen auch der Moderne durch Muster, die der Verknüpfung von Opfer und Verehrung, von Passion und Pathos entstammen.
Die theologische Figur des Märtyrers (von griechisch martyr, 'Zeuge'), dessen Entstehung mit einer semantischen Umdeutung des Zeugen in den Blutzeugen einhergegangen ist, verbindet das Opfer des eigenen Lebens – sei es durch Selbsttötung oder Inkaufnahme des eigenen Todes – mit einem Bekenntnis: sei es zur Wahrheit oder Tugend, zum Glauben oder zu den Religionsgesetzen. Damit wird das physische Sterben zur Manifestation eines metaphysischen Sinns. Als nach einer Geschichte mythischer, antiker und judaischer Vorformen die Passion Christi zum zentralen Bezugspunkt einer emphatischen Märtyrerkultur geworden war, hat diese sich seither mehrheitlich in Formen und Variationen einer Imitation der Passion, der Nachahmung eines heiligen Martyriums, weiter entwickelt: als Genealogie, in der sich Vorbild und Nachahmung ablösen, – und als Kette der Leiden und Leidenschaften. Davon ausgehend hat sich in der Geschichte von Säkularisierung und Modernisierung die Bedeutung des 'Märtyrers' auch in nicht genuin religiöse Felder ausgeweitet: als Figur eines heroischen, geheiligten oder idealisierten Sterbens für einen höheren Wert, für die Interessen oder Ideale einer Gemeinschaft, Nation oder Idee. Die Gestalt des heiligen Kriegers oder Gotteskrieger, sei es in Gestalt des christlichen Kreuzritters, des islamischen Schlachtfeldmärtyrers oder des zeitgenössischen Selbstmordattentäters, hat sich dabei auf den Schauplätzen der Politik als besonders wirksam erwiesen. Dagegen ist die mystische Umformung des Martyriums in eine sublime Form gesteigerter sinnlicher Offenbarung, wie sie in der mittelalterlichen Mystik ausgebildet wurde, zu einer Vorlage ästhetischer Programme – auch und gerade – in der Moderne geworden.
Die Strukturen und Elemente der Märtyrertradition sind somit zum einen geeignet, die verborgenen religionsgeschichtlichen Grundlagen der Moderne sichtbar zu machen; zum anderen erhellen sie grundlegende Motive (nicht nur) der europäischen Kulturgeschichte. Das Deutungsmuster des Märtyrers kommt immer dann zum Einsatz, wenn es darum geht, radikale Umdeutungen vorzunehmen: Opfer in Helden zu verwandeln, Ohnmacht in Macht, Schmerz in Lust, Leiden in Leidenschaft, Askese in mystische Ekstase – und den (realen) Tod in ein (imaginäres) ewiges Leben, Insofern verkörpert der Märtyrer, einem Revenant gleich, die Formensprache der abendländischen Imaginations- und Bildgeschichte seit der Antike. (Sigrid Weigel)