ZfL INFO 104/2022: Neues ERC-Forschungsprojekt, »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung«
Neues ERC-Forschungsprojekt, »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen«
Das Projekt »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen« wird im Rahmen des Programms Horizon Europe mit einem ERC Starting Grant gefördert. Principal Investigator ist die Komparatistin Gianna Zocco, die mit ihrem Projektteam literarische Texte afro-europäischer, afrikanischer und afrikanisch-diasporischer Autor*innen vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart untersuchen wird, die sich auf verschiedene Weisen auf Europa beziehen: Sei es, dass sie einen europäischen Schauplatz wählen, sich auf Europas Geschichte oder seine Bewohner*innen beziehen oder ihr Verhältnis zu unterschiedlichen europäischen Sprachen reflektieren.
Allen untersuchten Texten ist gemeinsam, dass sie sich auf komplexe, teils ambivalente und oft subversive Weise mit Fragen von Eigentum und Aneignung auseinandersetzen. Diese Beschäftigung findet mal explizit, mal implizit sowohl auf thematischer als auch auf rhetorischer Ebene statt und wird im Projekt theoretisch mit dem Begriff der transkulturellen Aneignung gefasst. Damit rücken einerseits die gewaltvolle primäre Aneignung des afrikanischen Kontinents und seiner Bewohner*innen und die besitzergreifende Setzung von Europa als weiß in den Fokus, die in neokolonialen Strukturen und Bildern wie dem der ›Festung Europa‹ bis heute nachwirken. Andererseits öffnet der Begriff der Aneignung den Blick für die genuin literarischen Akte des Imaginierens und Neu-Schaffens von Europa als ›Afropea‹: Die Texte erzählen von Afropäer*innen, die schon vor hunderten von Jahren in Europa heimisch waren; sie nutzen ästhetische Mittel aus dem europäischen Kanon zu neuen Zwecken; oder sie machen in ironischer Weise Gebrauch von Eigentumsbegriff und kolonialem Diskurs. Indem die Texte explizit als Schwarze Erzählungen transkultureller Aneignung betrachtet werden, wird ein neues Verständnis dafür entwickelt, wie die Literatur Schwarzer Autor*innen gängige Vorstellungen von territorialem und kulturellem Eigentum, Welterbe und den Ambiguitäten europäischer Zugehörigkeit kritisiert, aktiv gestaltet und bisweilen offen ablehnt. Die im Projekt vorgenommene heuristische Umkehrung des Begriffs der kulturellen Aneignung ermöglicht einen differenzierten Blick auf dessen unterschiedliche Verwendungsweisen: Der gegenwärtige, meist negativ-wertende Gebrauch soll abgegrenzt werden von älteren, moralisch neutralen oder positiv-emanzipatorischen Nutzungen etwa im Sinn eines postkolonialen writing back.
Indem das Projekt die bislang nur unvollständig erforschte historisch wie geografisch breite Tradition der subjektiven und ästhetisch innovativen Imagination Europas in der Literatur Schwarzer Autor*innen analysiert, erschließt es ein neues Feld der europäischen Komparatistik. Besonderes Interesse gilt dabei afroeuropäischem Schreiben, das in den Zwischenräumen und Graubereichen jenseits der Dichotomie von Kolonisatoren und Kolonisierten stattfindet. Daher liegt ein Schwerpunkt auf literarischen Texten in kleineren und mittleren Sprachen, sowie auf Texten, die sich auf Mittel- und Osteuropa und auf Gebiete jenseits der Metropolen beziehen. Somit trägt die Untersuchung auch zur Erweiterung des Gegenstandsbereichs der African European Studies bei, die es durch seine literaturwissenschaftliche Ausrichtung interdisziplinär bereichert.
Die Komparatistin Gianna Zocco ist seit 2019 Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiatin am ZfL mit dem Projekt Deutschland und seine Geschichte in afroamerikanischer Literatur. Sie promovierte 2013 mit einer Arbeit zum Motiv des Fensters als Öffnung ins Innere in Erzähltexten seit 1945 und war danach als Lehrbeauftragte und Universitätsassistentin an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien sowie 2016/2017 mit einem Stipendium der Max Kade Foundation am Department of English and Comparative Literature der Columbia University in New York City tätig. Im Frühjahr fand am ZfL das von ihr gemeinsam mit Sandra Folie organisierte Blankensee-Kolloquium zum Thema Sketches of Black Europe. Imagining Europe/ans in African and African Diasporic Narratives statt.