Geschlecht und Gegensatz

Im späten 18. Jahrhundert wurde das bis dahin vorherrschende anatomische Verständnis des Lebens von einem physiologischen abgelöst. Ausgehend von dieser Beobachtung wird im Projekt die Ausbildung einer bis heute wirkmächtigen Mythologie des Geschlechts untersucht. Der moderne Begriff des Geschlechts (engl. sex), verstanden als sowohl Identität (männlich/weiblich) als auch Akt (Geschlechtsverkehr), die miteinander in Wechselwirkung stehen, führte nicht nur zu einer Neubestimmung der Beziehung zwischen Mensch und sozialer wie natürlicher Welt. Er wurde auch zum zentralen Bezugspunkt biologischer, epistemologischer, ethischer und ontologischer Theorien. In diesem Zusammenhang kam es auch zur sozialen Auf- und Abwertung bestimmter sexueller Praktiken und Identitäten, die mit grundlegenden Annahmen über die Verfasstheit der Welt verknüpft wurden. In den gesellschaftlichen und rechtlichen Debatten um gleichgeschlechtliche Ehe, Abtreibung und die Rechte von Transpersonen in den USA erfährt das damals aufkommende geschlechtliche Paradigma gegenwärtig neue Aktualität.

Die Wende von der Mechanik zu den polaren Dynamiken von Magnetismus und Elektrizität, die sich in der Physik des 18. Jahrhunderts vollzog, beeinflusste auch die neuentstehende Disziplin der Biologie. Zum Ende des Jahrhunderts wandte sich diese, nicht zuletzt bezogen auf Fragen des Geschlechts, verstärkt Kräfteverhältnissen und dynamischen Polaritäten zu, bis sich schließlich ein neues Verständnis des Individuums als durch das Zusammenspiel innerer und äußerer Kräfte bestimmt durchsetzte. Ästhetischen Ausdruck fand das neue Verhältnis von Kraft und Gestalt in den Mensch-Umwelt-Beziehungen und Identitätsbildungen der romantischen und klassizistischen Literatur. Naturforscher, Autoren und Naturphilosophen gleichermaßen beschrieben das Geschlechterverhältnis in Begriffen des interaktiven Gegensatzes. Während sich dieses gewandelte Verständnis von Geschlecht im Deutschen nicht unmittelbar in der Terminologie niederschlug, löste im englischsprachigen Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Ausdruck the opposite sex die ältere Wendung the other sex ab.

In den 1990er Jahre bildeten unter anderem die Arbeiten von Thomas Laqueur und Londa Schiebinger die Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung damit, wie sich Vorstellungen von sex und gender am Übergang zur modernen westlichen Welt verändert haben. Beide beschäftigten sich mit der Ausbildung eines neuen, auf der Annahme einer radikalen sexuellen Differenz gründenden komplementären Geschlechterverständnisses. Dabei kam dem empirischen Körper eine zentrale Rolle zu. Doch gerade Vorstellungen des Körpers selbst unterlagen zu dieser Zeit starken Veränderungen, die im Projekt eingehend untersucht werden.

 

Abb. oben: Darstellung eines elektrostatischen Experiments von Francis Hauksbee dem Älteren (1660–1713) unter Verwendung eines von ihm entworfenen elektrostatischen Generators, Quelle: Jean-Antoine Nollet: Leçons de Physique, Paris: Durant 1767

ab 2024 Guggenheim Fellowship
2023–2024 National Endowment for the Humanities Fellowship und Fulbright Fellowship
Laufzeit: 2023–2024

Veranstaltungen

Vortrag
13.05.2024 · 18.00 Uhr

Stefani Engelstein: Love, in Theory… Sexual Love and the Dynamics of Polarity in Fichte, Schelling, and Günderrode

Freie Universität, Institut für Philosophie, Vortragsraum, Habelschwerdter Allee 30, 14195 Berlin

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