Eine Zeichnung mit dem Titel »The entire brain, more or less, is at work in a man who uses language« von William James. Rechts im Bild: eine Hand, die das Wort "John" auf ein Papier schreibt. Von links im Bild führen zur Hand diverse abstrakte Linien.

Psychologismus. Geschichte eines Verdachts im literarischen Feld des frühen 20. Jahrhunderts

Im ausgehenden 19. Jahrhundert rekonfigurierte sich im Kaiserreich das universitäre Disziplinengefüge. Dabei wurde viel darüber diskutiert, wie sich insbesondere Psychologie und (germanistische) Literaturwissenschaft zueinander zu verhalten hätten. So unterschiedliche Figuren wie Wilhelm Wundt, der Literaturhistoriker Alfred Biese und Befürworter einer Literaturwissenschaft, die anders als Literaturgeschichte und Philologie sein wollte, sprachen sich für eine Psychologisierung der Literaturwissenschaft im Sinne der empirischen Naturwissenschaften aus, mit der Wörter wie ›Tatsache‹, ›Objektivität‹, ›Gesetz‹ und ›Methode‹ assoziiert wurden. Daneben trat – im Zuge der wissenschaftstheoretischen Unterscheidung von Naturwissenschaften einerseits und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften andererseits – eine (prominent von Wilhelm Dilthey vertretene) psychologische Grundlegung der Geisteswissenschaften.

Für das frühe 20. Jahrhundert zeichnet sich dann eine untersuchungswürdige Spannung ab: Einerseits funktionierte ›Psychologismus‹ innerhalb der Literaturforschung als Stellvertretervorwurf und ideologisches Chamäleon, mit dem unterschiedliche Akteure Unterschiedliches abwerteten; andererseits spielte der affirmative Bezug auf die Psychologie vonseiten der Literaturforschung weiterhin eine tragende Rolle, nicht zuletzt in der literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung.

Das Dissertationsprojekt leistete einen Beitrag zur (Diskurs-)Geschichte der Germanistik, zur Geschichte der Theorie der Geisteswissenschaften sowie zur Geschichte der Interdisziplinarität. Es untersuchte das Verhältnis von Literaturforschung und Psychologie ungefähr für den Zeitraum 1880 bis 1930, wobei die Blickrichtung von der Literaturforschung ausging und eine wichtige heuristische Entscheidung war, den Blick vor allem dorthin zu wenden, wo dieses Verhältnis in den Quellen ›Psychologismus‹ genannt wird.

Übergeordnete These und Ziel der Dissertation war es, ›Psychologismus‹ erstmals als relativ eigenständigen Diskurs der Literaturforschung im frühen 20. Jahrhundert zu beschreiben: Wie, mit welche Zielen und mit welchen Effekten wurde ›Psychologismus‹ im literarischen Feld zwischen ca. 1880 und 1930 als Verdacht und als Vorwurf mobilisiert? Welche Werturteile über literarische Texte bzw. Textgruppen verbanden sich damit? Mit welchen bereits verfügbaren Kritiken wurde der Vorwurf effektiv amalgamiert? Welche Rolle spielte der Term in der Arbeit an der literaturhistorischen Epoche ›Moderne‹? Und welche Spuren hat er in der aktuellen Wissenschaftssprache der Literaturforschung hinterlassen?

 

Abb. oben: »The entire brain, more or less, is at work in a man who uses language«, in: William James: Principles of Psychology 1, 1890. S. 56f.

2020–2022
Leitung: Diba Shokri

Publikationen

Diba Shokri

  • »[E]ine Art Experiment in unserer Phantasie«. Selbstbeobachtung in Literaturwissenschaft und Psychologie um 1900, in: Scientia Poetica 25.1 (2021), 143–174