SchädelBasisWissen. Kulturelle Implikationen der plastischen Chirurgie des Schädels
Ausgangspunkt des Projekts war die Diskrepanz zwischen den technisch avancierten Operationsverfahren in der plastischen Chirurgie und der vagen Begrifflichkeit in der wertenden, den Eingriff motivierenden Beschreibung ihrer ›Objekte‹. Untersucht wurde die kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Herkunft der impliziten kulturellen Norm- und Idealvorstellungen zum körperlichen Erscheinungsbild (und dessen Funktion als Indikator der Persönlichkeit), wie sie gegenwärtig im medizinischen Diskurs, in visuellen Darstellungen und in der medizinischen Praxis und Therapie zum Tragen kommen. Im Zentrum stand dabei der menschliche Schädel als Körperteil, das für Selbst- und Fremdwahrnehmung von zentraler Bedeutung ist.
Das Vorhaben antwortete auf den Bedarf einer spezialisierten chirurgischen Praxis (Korrektur von Schädelfehlbildungen an Säuglingsköpfen/Craniosynostosen an der Charité), kulturelle Voraussetzungen und Kontexte in Praxis und Therapie einzubeziehen. Ziel des Projekts war es, die Voraussetzungen zu erarbeiten, die eine durch Wissen gestützte, reflektierte und patientenorientierte Arbeitsweise ermöglichen.
Im historischen Teil wurde die Genese der Vorstellung von einem ›wohlgeformten‹ (Kinder-)Schädel erforscht, die aus der Wechselbeziehung zwischen medizinischem Wissen, Künsten und kultureller Semantik hervorgegangen ist. Der aktuelle Teil organisierte einen Austausch mit Ärzten und Patienten.
Gegenstand der drei Projektteile waren
- Texte (Lehrbücher und Fachartikel aus dem Gebiet der plastischen Chirurgie),
- Visualisierungen und Modelle als Normalitätsinstanz (Proportionsstudien für Künstler, Anatomie-Lehrbücher, medizinische Fotos, bildgebende Verfahren, therapievorbereitende Datenbanken),
- Praxis und Therapie (beobachtende Begleitung einzelner Fälle, Patienteninterviews).
Teilprojekte
Texte: Rhetorik und kulturelle Semantik des SchädelWissens in der Medizin
Fokussierend auf die Genealogie und den zeitgenössischen Diskurs zum Phänomen der Craniosynostose, vermisst das Teilprojekt das diskursive Feld des »missgebildeten« Schädels. Seit der Entdeckung des vorzeitigen Verschlusses der Schädelnähte durch Virchow (ca. 1860), und der Etablierung routinisierter Behandlungsmethoden für Craniosynostose vor ca. 40 Jahren, hat sich das Vokabular zur Beschreibung von pathologischen Schädelformen stark verändert. Durch qualitative und rhetorische Analysen medizinischer Fachtexte, untersucht das Projekt die semantischen Felder, welche das Schädelwissen in diesem Zeitraum charakterisieren. Dabei stehen die kulturellen und historischen Konnotationen der medizinischen Sprache (z.B. »Missbildung«, »Deformität«) im Zentrum der Analyse, sowie die zugrunde liegenden kulturellen Vorannahmen, die Unterscheidungen zwischen »abweichenden« und »normalen« Schädelformen mitprägen und ermöglichen.
Visualisierungen: Schädelbilder in Kunst, Medizin und Statistik
Alle medizinischen Fachpublikationen arbeiten mit Visualisierungen (seien dies Zeichnungen, Fotografien, Diagramme oder durch bildgebende Verfahren generierte Bilder oder Modelle), die – wie Bild- und Medienwissenschaft gezeigt haben – keineswegs vorhandenes Wissen ›illustrieren‹, sondern an der Generierung von Wissen maßgeblich beteiligt sind.
Das Teilprojekt untersucht die spezifischen Rhetoriken dieser Abbildungen an aktuellen und historischen Beispielen im Umfeld der Craniosynostosen und arbeitet die Wechselwirkungen zwischen Bild und Text heraus.
Medizinische Praktiken: Arzt-Angehörigen-Interaktion
Diagnosen und Operationen von Craniosynostosen betreffen die Eigen- und Fremdwahrnehmung des menschlichen Individuums. Welche Erwartungen, Fragen, Zweifel und Hoffungen, welche Entscheidungswege und Verständigungsmuster kommen dort zur Geltung, wo gesellschaftliche Erwartungen, kulturelle Bedeutungsmuster und die Möglichkeiten avancierter Chirurgie aufeinandertreffen? Gespräche zwischen Ärzten und Patienten (bzw. deren nächsten Angehörigen), Äußerungen und Darstellungen in Foren, Blogs und Webpages, Informationsbroschüren, Ratgeberliteratur, fachliche und alltagspraktische Einlassungen können hierüber Aufschluss geben. Mittels semantischer Untersuchungen (Sprachspiel- und Sprechaktanalysen, Phrasemforschung) wird in diesem Teilprojekt der kulturelle Bedeutungsraum ausgelotet, in dem die Craniosynostosen verhandelt und behandelt werden: Wie kommen Einschätzungen von Form und Deformation explizit und implizit zur Sprache? Mit welchen sprachlichen Mitteln und argumentativen Einsätzen verläuft die Entscheidungsfindung für oder gegen eine Operation? Wie wird die zeitliche Dimension der Craniosynostose-Problematik (vorausgreifende Simulationen des wachsenden Schädels und zukünftiger Erfahrungen im sozialen Raum; konjunktivische Selbstverständigungen, rückblickende biographische Erzählungen) in Sprache gefasst?
Kulturgeschichtliche Untersuchungen zu Wechselwirkungen zwischen Kunst und plastischer Chirurgie
Das Dissertationsprojekt untersucht Wechselbeziehungen zwischen Kunst und plastischer Chirurgie, wobei Fokus der Betrachtung die Suche nach Form und ihre Erzeugung in beiden Disziplinen darstellt.
Das Projekt will sich ihren Bestimmungen nähern, indem es das jeweils spezifische Verständnis vom Materialgebrauch sowie die Entwicklung und Umsetzung von Techniken in beiden Disziplinen Ende des 19. und im Verlauf des 20. Jahrhunderts erforscht. Auffassungen von Bewegung und Bewegungslosigkeit sowie von Körperformen werden mit einbezogen, um die Prozesse und Ergebnisse der »Produktionen« von Formen zu verstehen.
Publikationen
Schädel Basis Wissen I
Kultur und Geschichte der chirurgischen Korrektur der Schädelform
Schädel Basis Wissen II
Texte zur Wissensgeschichte eines Knochens
Konstruktion – Erweiterung – Rekonstruktion
Verfahren der plastischen Chirurgie und Prothetik in der künstlerischen Praxis des 20. Jahrhunderts
- Uta Kornmeier, Simon Strick: Sammeln und Bewahren, Erforschen und Zurückgeben – ›Human Remains‹ aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Tagungsbericht, 4.–6.10.2012, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 20.4.2013
- Uta Kornmeier: Goldene Schnitte? Künstlerische und mathematische Referenzsysteme in der kraniofazialen Chirurgie, in: Trajekte 25 (2012), 34–39
- Simon Strick: Digitale Schönheit – Avatare, Geschlechterideale und das Uncanny Valley, in: Sexuologie, 21.3/4 (2014)
Veranstaltungen
Ernst Johannes Haberl, Sigrid Weigel: Begrifflichkeit und Chirurgie – am Beispiel angeborener Schädeldeformation
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Campus Mitte, Chariteplatz 1, 10117 Berlin. Bonhoefferweg 3, Seminarraum 41, 3. Ebene
Uta Kornmeier/Stefan Zachow: Von Angesicht zu Algorithmus. Digitale Repräsentationen von Gesicht und Schädel
Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, Neuer Senatssaal
Medical Self-Fashioning. Twentieth and Twenty-first Century Case Studies at the Intersection of Medicine, Public Discourse, and Literature
Kansas City, Missouri Westin Kansas City at Crown Center, Penn Valley Room
Kopfarbeit. Videoperformances von Eva Wandeler
Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Charitéplatz 1, 10117 Berlin
Der Möglichkeitsraum des Digitalen in der Chirurgie
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
Begriffswelten der Schädelchirurgie. Zur kulturellen Semantik von Craniosynostosen
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
Uta Kornmeier/Simon Strick: Anatomie und Ästhetik. Der Schädel als Objekt formgebender Chirurgie
Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité, Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Hörsaalruine
Simon Strick: Digitale Schönheit. Avatare, Geschlechtsideale und das ›Uncanny Valley‹
Museum für Kommunikation, Leipziger Str. 16, 10117 Berlin-Mitte
Uta Kornmeier: Visualising the skull - what is normal?
Oxford University Museum of Natural History and Pitt Rivers Museum
Uta Kornmeier: Schöne Effekte! Zwischen Heiligenschein und Stigma
Museum für Kommunikation, Leipziger Str. 16, 10117 Berlin-Mitte
Ernst-Johannes Haberl/Uta Kornmeier: Schädelform als Wert. Chirurgische Korrektur von Schädelformen
Universität Freiburg, Platz der Universität, 79098 Freiburg, Aula, KG I
Culture Meets Surgery. Images, Models, and Interpretations of the Human Skull
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
Medienecho
Neu zusammengesetzt: Ein Projekt zu Schädelformen verbindet Kulturwissenschaft mit klinischer Praxis. Es berührt heikle historische und chirurgische Fragen. Artikel von Astrid Herbold, in: Tagesspiegel vom 25.02.2019
Radiogespräch mit Uta Kornmeier zum Thema Kopftransplantation, in: Deutschlandradio Kultur, Sendung Studio 9 vom 20.05.2015, (7:39 min)
Die Sonderausstellung mit dem Titel ›Kopfarbeiten‹ kuratieren die Kunsthistorikerin Dr. Uta Kornmeier und Dirk Naguschewski. Beitrag von Stefan Sperfeld, in: RBB Fernsehen, Sendung rbbpraxis vom 19.11.2014
Radiobeitrag, in: RBB Kulturradio am Vormittag, Sendung Kulturkalender vom 11.09.2014, 09:30 Uhr
Vortragsaudio von Uta Kornmeier. Radiobeitrag zur Themenreihe ›Schönheit‹, in: DRadio Wissen, Sendung Hörsaal vom 20.11.2013 (29:26 min)
Symposium considers drawing’s role in refining and communicating knowledge, from geology to surgery to unicorns. Artikel von Matthew Reisz, in: Times Higher Education, 14.11.2013
Tagungsbericht, in: FRIAS NEWS 08 (07/2013), 32-33
Die Kulturwissenschaftler wenden sich dem Körper zu. Jetzt trafen sie sich in Berlin zu einer Tagung mit plastischen Chirurgen. Artikel von Volker Breidecker, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.11.2012
Chirurgen, GeisteswissenschaftlerInnen und Kulturschaffende widmen sich auf einer Tagung dem Thema ›Schädel‹. Artikel von Elise Graton, in: tageszeitung vom 12.11.2012
Eine Tagung des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin befasst sich mit Schädelformen. Interview mit Uta Kornmeier, in: Deutschlandfunk, Sendung Kultur heute vom 10.11.2012, 17:30
Jahresbericht 2011 über den Förderbereich ›Herausforderungen für Wissenschaft und Gesellschaft‹ der VolkswagenStiftung, in dem das ZfL-Projekt SchädelBasisWissen gefördert wird.
Chirurgen und Kunsthistoriker untersuchen gemeinsam ästhetische Gesichtspunkte. Radiobeitrag von Anke Schäfer, in: Deutschlandfunk, Sendung: Aus Kultur- und Sozialwissenschaften vom 12.01.2012, 20:10 Uhr
Von der Kopfform wird auf den Charakter geschlossen. Chirurgen und Kulturhistoriker bearbeiten das Gebiet gemeinsam. Artikel von Claudia Schmölders, in: Tagesspiegel vom 27.4.2011
Artikel von Cornelia Werner, in: Hamburger Abendblatt vom 2.4.2011
Apparate und Technik dominieren heute die Medizin. Doch es gibt Situationen, in denen es Ärzten nicht mehr ausreicht, nur die Technik, nur das Handwerk zubeherrschen. Radiobeitrag von Anke Schäfer, in: Inforadio RBB, Sendung: Wissenswerte - Forschung im Gespräch vom 31.3.2011, 10:25 Uhr
Chirurgen können heute seltsam gewachsene Schädel korrigieren. Doch wer oder was sagt ihnen, welche Form eigentlich die beste ist? Artikel von Norbert Lossau, in: Die Welt vom 29.3.2011
Ernst-Johannes Haberl will bei der Korrektur von Schädel-Fehlbildungen minimalinvasiv operieren. Artikel von Norbert Lossau, in: Berliner Morgenpost vom 28.3.2011
Deutsche Mediziner und Geisteswissenschaftler wollen gemeinsam ein Tabuthema aufarbeiten. Artikel von Norbert Lossau, in: Welt am Sonntag vom 27.3.2011
Pressemitteilung der VolkswagenStiftung vom 21.3.2011