Zentrum für Literaturforschung (ed./eds.)
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Heft 9

Trajekte 9
Berlin 2004, 52 pages
  • Jahrestagung
    Nachleben der Religion(en). Eine kulturwissenschaftliche Tagung
  • Aus dem Archiv
    Ein Exil-Brief aus Istanbul an Freya Hobohm in Marburg (Erich Auerbach)
    Nachschrift (Marie Auerbach)
    Kommentar (Martin Vialon)
  • Kolloquium
    Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen
  • Laudationes
    Eberhard Lämmert zum 80. Geburtstag (Manfred Naumann)
    Karlheinz Barck zum 70. Geburtstag: Trauma Hegel? (Wolfgang Klein)
  • Kolloquium
    Literatur und Kunst
  • Korrespondenzen
    Der Tod und das Mädchen. Literatur und Ähnlichkeit nach Maurice Blanchot (Georges Didi-Huberman)
  • WissensKünste
    Von der Evolution zum Experiment – Schönheit in Kunst und Wissenschaft (Sabine Flach)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Excerpt

Sigrid Weigel

Dem Zentrum für Literaturforschung steht ein dichtes Halbjahr bevor: mit zahlreichen Veranstaltungen, wichtigen Entscheidungen und einem zweifachen Anlaß zum Feiern. Der 80. Geburtstag von Eberhard Lämmert, Gründungsdirektor des ZfL und diesem als Betreuer eines Forschungsprojekts noch immer verbunden, und der 70. Geburtstag des Ko-Direktors Karlheinz Barck, dem spiritus rector (nicht nur) des Wörterbuchs Ästhetischer Grundbegriffe, fallen in eine Zeit, in der das Zentrum auf dem Prüfstand steht und über seine Zukunft entschieden werden muß.

Die Tagung, mit der das ZfL jährlich einen seiner Arbeitsschwerpunkte vorstellt, ist dieses Jahr dem wiedererwachten Interesse an den Religionen gewidmet. Sie fragt nach den Phänomenen und Formen eines Nachlebens der Religionen in der Kultur und diskutiert den erkenntnistheoretischen Gewinn religionshistorischer Fragestellungen für die Kulturwissenschaften (14.–17.10. in der Friedrichstadtkirche im Französischen Dom). Die Tagung bündelt Themen und Fragen aus einem seit vier Jahren bestehenden Forschungsschwerpunkt, in dem die Spuren religiöser Traditionen in der europäischen Kultur untersucht werden (vgl. Trajekte 2 und 8 sowie die Jahrestagung 2001 zu Figuren des Europäischen). Bei der Weiterentwicklung dieses Schwerpunktes (im Zusammenhang des diesjährigen DFG-Antrags) wurden neben christlichen und jüdischen Kontexten nun auch Traditionen aus der Ostkirche und islamischen Religionskulturen einbezogen. Diese Vervielfältigung religionshistorischer Konstellationen profitiert nicht nur davon, dass die Slavistik im Zentrum traditionsgemäß stark vertreten ist, sondern auch von dem Arbeitskreis des Berliner Seminars am Wissenschaftskolleg zu Berlin, in dem seit zwei Jahren ein Austausch zwischen Literaturwissenschaftlern und Arabisten stattfindet (in der Verantwortung von Friederike Pannewick/Angelika Neuwirth von der FU und Martin Treml/Sigrid Weigel vom ZfL). Die Genese der europäischen Kultur aus dem doppelten Ursprung von Athen und Jerusalem wird dabei durch Korrespondenzen mit Orten wie Beirut und Istanbul befragt. Dadurch kommen nicht nur fremde Schriften und Symbole ins Spiel, sondern manchmal ereignet sich auch eine unheimliche Wiederkehr allzu vertrauter Bilder – wie jüngst durch die massenmedial vermittelte Popularität von Passions- und Märtyrer-Ikonographien im Nahen Osten.

Durch diesen Arbeitszusammenhang hat Erich Auerbach, dessen Philologie europäischer Kulturgeschichte für den genannten Forschungsschwerpunkt von Anfang an eine wichtige Rolle spielte (s. den Briefwechsel zwischen Buber und Auerbach in Trajekte 2), einen noch größeren Stellenwert erhalten. Nicht zufällig ist seine „Philologie der Weltliteratur“ im Exil in Istanbul entstanden, eine Tatsache, die für die gegenwärtige internationale und interdisziplinäre (Wieder-) Entdeckung Auerbachs (s. Edward Saids Edition der Mimesis) keine geringe Rolle spielt. Am ZfL ist ein Editions- und Forschungsprojekt zu Auerbach geplant, das u.a. die bisher unveröffentlichte Korrespondenz berücksichtigt und wesentlich auf den Vorarbeiten von Martin Vialon, derzeit als Germanist in Istanbul tätig, basiert. Eine Probe aus seinen umfangreichen Archivrecherchen präsentiert er hier mit einem Brief von Erich Auerbach aus dem Jahre 1938 an die Romanistin Freya Hobohm, eine Schülerin Leo Spitzers (Aus dem Archiv). Die Tatsache, daß die Entwicklung dieses Projekts ganz wesentlich auf die Initiative von Karlheinz Barck zurückgeht, war Grund genug, anläßlich seines 70. Geburtstag ein Symposium über Erich Auerbach – Geschichte und Aktualität eines Europäischen Philologen zu organisieren (9.–11.12. im Literaturhaus).
Die Mitarbeiter des Zentrums verbinden ihre Vorbereitungen für dieses Symposium mit einer Gabe an ihren Ko-Direktor, die nicht nur sein Engagement für den großen Romanisten, sondern auch seine Leidenschaft für Enzyklopädien adressiert: ein Auerbach-Alphabet, das dieser Nummer der Trajekte beiliegt. Es ist zugleich als Supplement zu einem bisher unveröffentlichten Dante-Vortrag von Auerbach gedacht, dessen Publikation in auditiver und transkribierter Form als CD derzeit im ZfL in Planung ist (initiiert von Karlheinz Barck, transkribiert und kommentiert von Martin Vialon).

Das Engagement für Auerbach ist bei Karlheinz Barck beständig, hat er doch schon 1987/88 dessen Briefe an Walter Benjamin und an Werner Krauss ediert. Dieses erklärt sich nur z.T. durch den Familienroman der Romanistik, durch den der Krauss-Schüler Karlheinz Barck sich mit dem Krauss-Lehrer Erich Auerbach verbunden fühlt. Auf die in solchen Genealogien üblichen internen Debatten nimmt das Erinnerungsbild von Wolfgang Klein Bezug, einem ehemaligen Mitstreiter – und was den Hegelianismus betrifft, offenbar auch Gegenspieler – von Karlheinz Barck am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR.

Im Namen der Mitarbeiter dieses Instituts – einige Forschungsprojekte bildeten den Kern für die Gründung des ZfL im Jahre 1996 – erinnert sich Manfred Naumann in seiner Würdigung von Eberhard Lämmert an dessen herausragende Rolle in dieser Geschichte. Eberhard Lämmerts Unvoreingenommenheit und seiner wissenschaftspolitischen Erfahrung, Klugheit und Weitsicht beim Umbau der deutschen Wissenschaftslandschaft nach 1989 ist es zu verdanken, daß der Abbau der Akademie unter anderem in den Aufbau der Geisteswissenschaftlichen Zentren mündete. Die Ehrung, die die Berliner Zentren Eberhard Lämmert anläßlich seines 80. Geburtstags zukommen lassen, soll dieses Mal nicht allein dem erfolgreichen Wissenschaftsorganisator gelten, dessen Rolle das öffentliche Bild Lämmerts in der letzten Zeit sehr stark geprägt hat, sondern vor allem auch dem Liebhaber und Kenner von Literatur und anderen Künsten (vgl. die gleichnamige Reihe, die er zusammen mit Thomas Koebner herausgegeben hat), der den interdisziplinären Horizont der Arbeit im ZfL ermöglicht hat. Der Abend zu seinen Ehren steht deshalb – mit einem Vortrag des Kunsthistorikers Wolfgang Kemp und einer Lesung von Heiner Müllers „Mommsens Block“ von Henning Rischbieter – unter dem Motto Literatur und Kunst (22.10. im Literaturhaus).

Die Verwandtschaft von Literatur und Kunst stand auch im Zentrum der Gespräche mit dem Pariser Kunstwissenschaftler und Philosophen Georges Didi-Huberman, der im Sommer Gast des ZfL war. Sein Bildbegriff, den er aus einer Leibhaftigen Malerei (2002, frz. La Peinture Incarnée, 1985) und aus einer Konstellation vor dem Abbild, Devant l'image (1990), entwickelt hat und in dem die Ähnlichkeit eine zentrale Rolle spielt, wird in seinem Vortrag Der Tod und das Mädchen. Literatur und Ähnlichkeit, den er während seines Aufenthaltes am ZfL hielt, direkt mit einem literarischen Bildbegriff verknüpft, gewonnen aus einer Lektüre der Schriften von Maurice Blanchot. Der Vortrag wird hier in deutscher Übersetzung publiziert (Korrespondenzen). In einem Workshop stellte er sein Projekt zur Nympha Fluida vor, das Teil einer Serie verschiedener Nymphen-Typen ist, die Didi-Huberman als eine Figur des ‚Nachlebens’ (Warburg) versteht, in der sich je spezifische ästhetische und psychische Ökonomien in einem Bild der Bewegung verdichten (vgl. sein Buch Nympha Moderna, Essai sur le Drapé Tombé, 2002). Darin spielen sprachliche und visuelle Bilder nicht nur aus Literatur- und Kunstgeschichte eine wichtige Rolle, sondern immer auch Photographien, Texte und Experimente aus der Wissenschaftsgeschichte, vor allem Bergson und Marey.

Diese Arbeitsweise berührt sich sehr eng mit dem Projekt der WISSENSKÜNSTE, in dem das ZfL in Kooperation mit dem Museum für Gegenwart – Hamburger Bahnhof seit drei Jahren in einem laborartigen Szenario Künstler, Kultur- und Naturwissenschaftler zu aktuellen Entwicklungen von Wissenschaft und Technik ins Gespräch bringt. Nach Veranstaltungen zu Life Sciences – Kunst – Medien (2001/02) und Bilder jenseits des Bildes (2003/04) geht dieses Experiment nun mit dem Thema Zwischen Evolution und Experiment – Schönheit in Kunst und Wissenschaft in die dritte Runde (Eröffnung am 13.01.2005). Die Veranstaltung ist außerdem Teil einer Zusammenarbeit mit dem Haus der Kulturen der Welt, die unter dem gemeinsamen Titel BeautyPolitics steht. Während die Schönheit eine Schlüsselkategorie der ästhetischen Theorie darstellt und in den Kulturwissenschaften eine enorme Konjunktur erfahren hat, ist mit der Renaissance evolutionstheoretischer Paradigmen in den Biowissenschaften die Schönheit auch (wieder) zu einem prominenten Paradigma naturwissenschaftlicher Forschung avanciert. Die Abwandlung des Darwinschen Mottos „Survival of the Fittest“ in „Survival of the Prettiest“ ist dabei mehr als ein Wortspiel, stellt doch die zentrale Rolle der Accessoires in Darwins Theorie der ‚sexuellen Selektion’ eine direkte Verbindung zur Kultur der Mode her, während Schönheitszwang und medizinischer Fortschritt sich in der Praxis operativer Modifikationen des menschlichen Körpers verbinden. Die Schönheit ist damit zu einem Produkt von Evolution und Experiment geworden, an dem die Vorhaben von Künstlern, Biologen, Medizinern, Modeschöpfern, Kulturwissenschaftlern u.a. sich treffen.

Zur wissenschaftspolitischen Situation des ZfL
Die Zahl von Forschungs- und Kultur-Einrichtungen, von einzelnen Wissenschaftlern, Projekten und Netzwerken, die mit einer Anfrage zur Kooperation an das ZfL herantreten belegt, daß dieses seinen Ort und sein eigenes Profil in der akademischen und intellektuellen Landschaft gefunden hat. Das ZfL praktiziert eine Literatur- und Kulturforschung, die sich an Fragen orientiert, die die Gegenwart stellt, und deren Grundlagen und Voraussetzungen in der Kultur- und Wissensgeschichte erforscht. Vor dem Horizont eines vielerorts zu beobachtenden Auseinanderdriftens von technisch-medialen Interessen einerseits und kulturanthropologischen Interessen andererseits gründet das Programm des ZfL in einem Begriff von Kultur, der deren doppelten Ursprung aus poiesis/techne und Kult/Ritus berücksichtigt. Dabei sind es die sprachlichen Phänomene der Kultur, sind es Literatur, Diskurse und Symbolsysteme, in denen sich die Konflikte und Spannungen zwischen technik-dominierten und religions-dominierten Gesellschaften darstellen. Insofern praktiziert das Zentrum Philologie als Kulturwissenschaft.

So gesehen ist die Empfehlung des Wissenschaftsrates zur Gründung von Geisteswissenschaftlichen Zentren mit dem Ziel einer interdisziplinären, kulturwissenschaftlichen Forschung, die sich insbesondere Themen an den Grenzgebieten mehrerer Fächer widmet, aufgegangen. Die Erfahrungen zeigen, daß die Zentren ideale Laborbedingungen für innovative geisteswissenschaftliche Forschungen darstellen, besonders gut geeignet für die gewünschte interdisziplinäre Ausrichtung und eine als Teamarbeit organisierte Forschung, die es ermöglicht, aktuelle Problemstellungen mit historischer, quellenbezogener und theoriegestützter Forschung zu verbinden und diese in je wechselnden, themenadäquaten Untersuchungsanordnungen durchzuführen. Dadurch, daß die Mehrzahl der Wissenschaftler befristet und projektgebunden in den Zentren arbeitet und somit ein permanenter personeller Austausch mit den Universitäten stattfindet, konnte - ebenso wie durch die Einbindung von Universitätskollegen als Projektleiter - eine enge und intensive Kooperation mit den Universitäten entwickelt werden. Während diese eine ständige Rückkopplung mit den ‚Mutterfächern‘ garantiert, ermöglicht dagegen die institutionelle und administrative Autonomie eine flexible, allein an den jeweiligen Forschungszielen orientierte Zusammenarbeit von Experten.

Da die sechs 1996 etablierten Zentren als zunächst befristete Erprobung autonomer Forschungszentren in den Geisteswissenschaften gedacht war, hat der Wissenschaftsrat in diesem Jahr eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die u.a. Empfehlungen zur Frage der Zukunft der Zentren entwickeln soll. Diese Aufgabe fällt in eine Zeit, in der die geisteswissenschaftliche Forschung im Niemandsland zwischen Landes- und Bundesverantwortung zu versickern droht: dort wo einerseits die Finanzdecke der Länder zur Förderung der Universitäten immer dünner wird und die Geisteswissenschaften auf das für die Lehre Notwendige zusammengeschmolzen werden, und wo andererseits die vom Bund geförderten, außeruniversitären Forschungsgesellschaften nicht hinreichen, weil diese überwiegend den Natur- und Technikwissenschaften vorbehalten sind. In dieser Situation sind Einrichtungen, in denen Wissenschaftler sich für einige Zeit zurückziehen können, um konzentriert mit Experten anderer Gebiete zusammenzuarbeiten und an Vorhaben zu partizipieren, die in dieser Form an der Universität nicht durchführbar sind, noch dringlicher als 1991, als die Denkschrift Geisteswissenschaften die Bildung solcher Orte empfahl.