Judith Elisabeth Weiss (Hg.)

Kunstnatur | Naturkunst
Natur in der Kunst nach dem Ende der Natur

KUNSTFORUM international Bd. 258
Köln 2018, 335 Seiten
ISSN 0177-3674

Mit Beiträgen von Hartmut Böhme, Linn Burchert, Herbert Kopp-Oberstebrink, Ingeborg Reichle, Gunnar Schmidt, Kirsten Claudia Voigt, Judith Elisabeth Weiss

Ist die derzeitige Konjunktur von »Natur«-Produkten und von Reisen in die »unberührte Natur«, von »Naturerlebnissen« auf Hochseilgärten im Wald bis hin zum Trend einer »Neo-Natur«, die eine »neue Lust am Naturkonsum« attestiert, womöglich eher das Siegel einer Verlustanzeige als Ausdruck einer neu erwachten Liebe zur Natur? Es scheint, dass die Sehnsucht nach Natur umso größer wird, je weniger von ihr übrig ist. Denn wer heute über Natur nachdenkt, nimmt meist ihre Manipulation und Zerstörung in den Blick: das Artensterben und den Klimawandel, das Meer, in dem künftig mehr Plastik schwimmt als Fisch und den stetig schrumpfenden Regenwald. Anthropozän nennen Wissenschaftler dieses »Zeitalter des Menschen«, das von extremen menschlichen Eingriffen in die Ökosysteme unseres Planeten geprägt ist. Auch die gegenwärtigen Theoriediskurse attestieren eine Krise der Natur, indem sie gängige Natur-Kultur-Konzepte aufkündigen und alternative Begriffe für »Natur« kreieren.

Angesichts dieses vielfach diagnostizierten Endes der Natur mutet ihre Konjunktur in der Kunst geradezu paradox an. Natur gibt sich hier als widerständig und belastbar zu erkennen, als unerschöpflich und wandelbar. Sie ist Motiv- und Ideengeberin und stellt der Kunst nach wie vor ein großes Reservoir der inhaltlichen wie materiellen Stoffsammlung zur Verfügung. Das Spektrum der gegenwärtigen künstlerischen Aneignungen von Natur reicht von den Reminiszenzen an die Feinmalerei und Naturalienkabinette der Frühen Neuzeit bis hin zu Anwendungen modernster Technologien der Synthetischen Biologie.

Der Themenband öffnet das Spannungsfeld von Kunstnatur und Naturkunst und schließt an die diversen Ausgaben des KUNSTFORUM International zum Thema an (Bände 48, 93, 145, 146, 174, 175). Ist die Natur tatsächlich zum Relikt geworden? Ist die aktuelle Kunst das Residuum einer Natur 2.0? In welchem Verhältnis steht das Paradigma Anthropozän zur ästhetischen Position einer natürlichen Natur? Ingeborg Reichle stellt künstlerische Positionen vor, die Stellung zu den Auswirkungen der Synthetischen Biologie und der Technisierung des Lebendigen beziehen. Der Beitrag von Hartmut Böhme nimmt die künstlerische Auseinandersetzung mit Lebensräumen des Extremen – Arktis und Wüste – ins Visier. Mit der Aktualität des Gartens als Metapher und künstlerisches Wirkungsfeld setzt sich Judith Elisabeth Weiss auseinander. Die Monografien von Gunnar Schmidt, Kirsten Claudia Voigt, Linn Burchert, Herbert Kopp-Oberstebrink und der Gastherausgeberin machen deutlich, dass die Kunst angesichts der theoretischen Bemühungen, den Natur-Begriff zu verabschieden, eigene Wege geht. Mag Natur künstlich, natürlich oder im Verschwinden begriffen sein – sie gibt sich vor allem als eine Angelegenheit der ästhetischen Bewertung zu erkennen. Zurück zur Natur bedeutet in diesem Sinne eine Kunst, die das Naturschöne mit dem Kunstschönen amalgamiert (Mariko Mori). Mit der Natur als Werkstoff lassen sich Werke jenseits der Natur schaffen (Christiane Löhr), ebenso wie die Polarität von Künstlichem und Natürlichem aufgehoben wird (Steiner & Lenzlinger), alles Natur nach der Natur sein kann (Krištof Kintera) oder sich Natur lediglich als ein Bruchstück unserer Erkenntnis erweist (Ilkka Halso). Die Gespräche mit dem Art Laboratory Berlin, mit Brandon Ballengée und Detlef Orlopp drehen sich im weitesten Sinne um Figurationen des Verschwindens und der Positionierung der Kunst dazu. Dabei ist und bleibt unhintergehbar, dass sich Natur in der Kunst (noch einmal) erschafft.

Judith Elisabeth Weiss