Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)
[Vergriffen!]

Heft 11

Trajekte 11
Berlin 2005, 48 Seiten
  • Aus dem Archiv
    Die Kunst der Beschreibung. G. Ch. Lichtenbergs 'Verzeichniß eines vollständigen Apparats von physicalischen Instrumenten' (Dieter Kliche)
  • Bildessay
    Gehirnwahrheiten. Zur Wiederkehr der Phrenologie in den Neurowissenschaften (Sabine Flach/Yvonne Wübben)
  • Jahrestagung
    Intuition und Kalkül. Der Beitrag von Philologie und Kulturwissenschaft zur Wissensgeschichte (Caroline Welsh/ Stefan Willer)
  • Tagung
    Zwischen 'Vererbung erworbener Eigenschaften' und Epigenetik. Eine kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Tagung (Ohad Parnes)
  • Literaturtage des ZfL
    Literarische Kritik der ökonomischen Kultur. Zur Rückkehr der Arbeitswelt in die Gegenwartsliteratur (Ulrike Vedder)
  • Arbeitstagung
    Herders 'Vom Geist der Ebräischen Poesie'. Eine Arbeitstagung (Daniel Weidner)
  • Korrespondenzen
    'I see, I am blind' - befleckte Formen der Wahrnehmung (Peter Bexte)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Der Beitrag von Philologie und Kulturwissenschaft zur Wissensgeschichte. Aktuelle Veröffentlichungen von Mitarbeitern des ZfL

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

In der ersten Nummer der Trajekte wurde der Forschungsschwerpunkt des ZfL zu Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften vorgestellt, der mit unserer Jahrestagung vor fünf Jahren seine Arbeit aufgenommen hat. Der Abschluß der ersten fünfjährigen Forschungsphase gibt nicht nur Anlaß, auf einige jüngere Ergebnisse aus den Einzelprojekten hinzuweisen (s. die Veröffentlichungen von Mitarbeitern des ZfL), sondern auch, mit der diesjährigen Tagung zum Thema INTUITION UND KALKÜL. DER BEITRAG VON PHILOLOGIE UND KULTURWISSENSCHAFT ZUR WISSENSGESCHICHTE (27.–29. Okt. 2005) die methodischen Möglichkeiten einer philologisch und kulturwissenschaftlich fundierten Wissens-/Wissenschaftsforschung zu resümieren.

Dabei ist der slash zwischen Wissen und Wissenschaft Programm, denn im Zentrum steht die Schwelle zwischen dem literarisch tradierten bzw. kulturell kommunizierten Wissen und jenem Wissen, das auf dem Wege (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis hervorgebracht wird: Welche Übertragungen, Verschiebungen und Entstellungen ereignen sich zwischen dem Herzen – als Pathosformel von Gefühlsausdruck und Liebeslyrik – und dem Objekt der kardiologischen Forschung, zwischen jenem Hirn, das einem schwirrt, "Lenins Hirn" in Tilman Spenglers Roman, dem individuellen Hirn des Probanden, das im neurowissenschaftlichen Experiment mit Hilfe von Pet vermessen wird, und den farbigen Hochglanzbildern in der Zeitschrift "Gehirn und Geist"? Was hat der 'genetische Code' mit dem Code der Semiotik oder Kybernetik zu tun, was die Projektion der Kamera mit der psychoanalytischen Kategorie, was das 'molekulare Kugellager' mit dem Kugellager des Mechanikers? Wie sehen Gewinn und Verlust aus auf dem Wege der 'Seele' von einem poetischem zu einem physio-psychischen Gegenstand? Welche verschlungenen Wege verbindet den Titel "Generation Golf" mit der "Theoria Generationes", die im 18. Jahrhundert die Entwicklung biologischer Zeugungstheorien begründete? Was haben himmlische Wesen wie Engel in der physisch-physikalischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts zu suchen?

 

Solche und ähnliche Fragen, die am Anfang einer Poetik des Wissens stehen, scheinen auf den ersten Blick leicht zu beantworten zu sein. Mit dem Hinweis auf die Metapher werden sie oft abgetan. Doch sobald man einem einzelnen Konzept – sei es einem Leitbegriff gegenwärtiger naturwissenschaftlicher Forschung wie Hirnkarte oder genetischem Code, sei es einem Begriff wie Generation oder einer ubiquitären Metapher wie der Stimmung – systematisch folgt, wird die Sache nicht nur intrikater und interessanter: Auf den verschlungenen Wegen durch verschiedene fachwissenschaftliche Theorien und Experimente, durch Randbemerkungen und Fußnoten, sprachliche und visuelle Darstellungen, durch die Geschichte von Medien und Techniken hindurch verwandelt sich solches Verfahren auch in eine Methode – "Umweg ist Methode" (Benjamin) –, mit der die Philologie nicht Unwesentliches zur Wissenschaftsforschung beizutragen hat. Indem sie die Grenzen zwischen Disziplinen nicht nur überschreitet, sondern diese selbst zum Schauplatz der Forschung macht, richtet sie ihr Erkenntnisinteresse auf Übergänge und Lücken zwischen den Paradigmen und Gegenständen der je spezialisierten Felder, auf kreative Übertragungen ebenso wie auf blinde Flecken, die zwischen den einzelnen Wissenschaften wie auch zwischen Künsten und Wissenschaften entstehen. Nicht die vieldiskutierte Opposition der 'zwei Kulturen' bildet deshalb das gemeinsame Thema der im ZfL durchgeführten Forschungsprojekte, sondern deren Genese. Im Laufe der Arbeit hat sich herausgestellt, daß der genannte Gegensatz weniger das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften als vielmehr die konfliktreiche und epistemologisch folgenreiche Beziehung zwischen Messen und Deuten, zwischen einem empirisch-experimentellen und einem historisch-hermeneutischen Wissenschaftsverständnis ist.

Daß der 'blinde Fleck' selbst das Ergebnis faszinierender Korrespondenzen zwischen Künsten und Wissenschaften ist, beschreibt der Korrespondenz-Essay von Peter Bexte über "Befleckte Formen der Wahrnehmung": Da das Auftreten des blinden Flecks in der Wissenschaftsgeschichte im 17. Jahrhundert sich mit dem Blindenmotiv in der Kunstgeschichte berührt, müssen Blindheit bzw. Nicht-Sichtbares, so Bexte, als Zentrum jeder Theorie des Sehens betrachtet werden. Die blinden Flecken bzw. Lücken des Wissens hätten demnach System und müssen als Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnis untersucht werden. Sie beschreiben nicht Fehler oder Versagen, sondern eine Stelle in der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst. Insofern käme es zuallererst darauf an, diese zu sehen, d.h. anzuerkennen und zu untersuchen.

Wenn technische tools und Instrumente, die beim wissenschaftlichen Sehen zum Einsatz kommen (wie Mikroskope, Photos und Videos) und mit denen dem Auge Unzugängliches visualisiert wird (wie Röntgenaufnahmen oder die sogenannten bildgebenden Verfahren), als bloße Hilfsmittel der Forschung betrachtet werden, dann wird dabei ihre konstruktive und bedeutungsgebende Funktion für die Konstitution der Gegenstände und die Herstellung wissenschaftlicher Tatsachen verkannt. Das "Verzeichniß von physicalischen Instrumenten", das G. Ch. Lichtenberg 1789 angefertigt hat (Aus dem Archiv), stellt in der präzisen Beschreibung der einzelnen Instrumente dagegen stets einen Zusammenhang zu den Experimenten her, die durch die Apparate ermöglicht werden: eine Einheit von experimentellem und instrumentellem Wissen. Ist das Verzeichnis selbst Beispiel einer Kunst der Beschreibung, so ist es auch als Vorlage für die Kunst des Instrumentenbaus wie für die Kunst des Experiments zu lesen. Den Status wissenschaftlicher Bilder als Artefakte zu reflektieren, ist eine Voraussetzung dafür, um der Suggestion zu entgehen, die Bilder des neuroimaging als Abbildungen des Hirns zu sehen. Von dieser Überlegung ausgehend, fragt der Bildessay GEHIRNWAHRHEITEN nach dem epistemischen Status von Hirnkarten und diskutiert den problematischen Rekurs auf die Phrenologie im Zusammenhang der neuen bildgebenden Verfahren.

Wie eng kultur- und naturwissenschaftliche Paradigmen miteinander verwoben sind, wird an den Konzepten von Erbe, Erbschaft, Vererbung besonders deutlich, die Gegenstand eines jüngst begonnenen Forschungsprojekts (in Kooperation von ZfL und der Universität Bielefeld) sind. Mit Bezug auf die Renaissance der Epigenetics in den Lebenswissenschaften wird es in der Tagung zum Thema ZWISCHEN 'VERERBUNG ERWORBENER EIGENSCHAFTEN' UND EPIGENETIK darum gehen, die aktuelle Forschung zu diskutieren und ihre Genese in einem kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang zu untersuchen (9.–11. 2. 2006).

Das Zusammenspiel oder die Trennung von Literatur und Wissenschaft spielt nicht nur im Forschungsschwerpunkt Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften, sondern auch in anderen Projekten, eine zentrale Rolle. So beschreibt die Ausdifferenzierung von poetischen und theologischen Texten, von Literatur- und Bibelwissenschaft die historische Konstellation für eine erneute Erörterung von J. G. Herders Werk, insbesondere von Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie, der eine Arbeitstagung (12.–14.1. 2006) gewidmet wird. Und die dritten Literaturtage des ZfL im Literaturhaus Fasanenstraße, die sich mit dem auffälligen (Wieder-)Auftauchen von Szenarien aus der Business- und Arbeitswelt in der jüngsten Literatur auseinandersetzen, fragen nach den Möglichkeiten einer LITERARISCHEN KRITIK DER ÖKONOMISCHEN KULTUR, Z.B. auch danach, in welcher Weise das literarische Wissen von der neuen Ökonomie sich vom Wissen des homo oeconomicus und den Analysen und Prognosen der Experten unterscheidet (27.–28.1. 2006).

Und schließlich wird die Reihe der Mittwochsvorträge des ZfL fortgesetzt mit Vorträgen auswärtiger Wissenschaftlern, die im Wintersemester beim ZfL oder bei anderen Berliner Institutionen zu Gast sind: David Levin (Chicago), Catherine David (Rotterdam) und Hans Belting (Karlsruhe/Wien).