Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)

Visionen

Trajekte 21
Berlin 2010, 52 Seiten
ISSN: 1616-3036

Bildessay

  • Innere Werte. Kunst im Röntgenlicht (Uta Kornmeier)

Jahrestagung des ZfL "Prophetie und Prognostik"

  • "Ich sah, und siehe". Zur biblischen Prophetie (Daniel Weidner)
  • Aussicht ins Unermessliche. Zur poetischen Prognostik (Stefan Willer)
  • Idolatrie: Nietzsche, Blake und Poussin (W.J.T. Mitchell)
  • "Überall ist Energie." Nikola Teslas Entdeckungen und Visionen (Tatjana Petzer)
  • Geister-Visionen: Experimentieren – Rivalisieren – Demokratisieren (Katrin Solhdju)
  • „Wenn jemand spricht, wird es hell.“ Sehen des Unsichtbaren in Psychoanalyse und Neurowissenschaften (Christine Kirchhoff)
  • "Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt...". Vom Sagen des Unsichtbaren in der literarischen Moderne (Hildegard Kernmayer)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Es gibt wenige Begriffe, die derart zwischen Hochschätzung und Verachtung aufgespannt sind wie die Vision. Wenn einerseits ständig davon die Rede ist, dass ohne Visionen – sei es zu alternativen Wegen der Energiegewinnung, sei es viel grundsätzlicher zu unseren Formen des Arbeitens, Wirtschaftens und Lebens – 'die Welt nicht mehr zu retten' sei, andererseits aber das Wort 'Vision' regelmäßig zur Abwertung abwegiger Ideen weltfremder Phantasten benutzt wird, dann deutet das auf ein brisantes Phänomen hin: Es ist das Symptom eines Urteilstreits, der wie ein Riss durch Gesellschaft und Wissenschaft geht.

Visionen sind Phänomene im doppelten Sinne: sekundär als Gegenstand kontroverser Beurteilungen und Maßstäbe, primär im ursprünglichen Wortsinn – von gr. φαινόμενο, fainόmeno, das 'Sichzeigende', 'Erscheinende' – als Erscheinungen noch vor jedem Urteil über deren Status, Einordnung oder Qualität. Wenn man mit dem Wort Vision, das sich von lat. visio, 'Sehen', 'Anblick' ableitet, heute aber zuvörderst – wenn nicht nur noch – solche Phänomene bezeichnet, die sich mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen lassen oder die gegebene, materielle Wirklichkeit überschreiten, dann hat sich in der europäischen Kulturgeschichte ein bemerkenswerter Bedeutungswandel im Verständnis der Erscheinungen vollzogen. Die Vision, eigentlich das Gesehene, ist nunmehr dasjenige, was als nicht-sichtbar begriffen wird, was nicht begreifbar, nicht fassbar, nicht planbar oder nicht berechenbar ist.

Die Zweischneidigkeit dessen, was mit Visionen verbunden wird, verweist auf eine fundamentale Doppelnatur, die dem Sehen und dem Blick, den Wahrnehmungen und den Erscheinungen zugeschrieben wird. Der Wunsch nach dem Unsichtbaren und zugleich die Furcht davor haben die gegensätzlichsten Vorstellungen hervorgebracht, die unter dem Begriff der Visionen versammelt werden. Die Ahnung, dass es sich bei dem, was sich dem menschlichen Auge in der äußeren Welt darbietet, nicht um die ganze Wirklichkeit handeln kann, bildet eine anthropologische Urszene. Aus ihr entspringt die Vorstellung eines zweiten oder anderen Blicks 'hinter die Dinge', über das Beobachtbare hinaus oder aber eindringend in das Obskure. Dabei ist die Betonung dieses anderen Blicks – jenseits von Optik und visueller Wahrnehmung – häufig mit der Aufwertung anderer Sinne verbunden, etwa dem Hören und Tasten. So gründet die Entwicklung der Psychoanalyse etwa im Wechsel vom ärztlichen Blick zum Zuhören (→ Kirchhoff).

Der antike Seher, der gerade das sieht, was sich dem normalen Sterblichen nicht zeigt, die biblischen Offenbarungen, die eine der äußeren Welt abgewandte Haltung voraussetzen und auf eine Art 'inneres Sehen' abzielen, und die Auspizien (Vogelschau) der römischen Auguren gehören in die nobilitierte Vorgeschichte der Visionen. Dagegen haben sie in krankhaften Wahnvorstellungen ihren wohl negativsten Ausdruck erhalten. In Gestalt des 'Vorscheins' sind Visionen durch die Philosophie anerkannt, als Hypothesenbildung methodisch gebändigt und als Vermögen von Projektemachern, Erfindern und 'Genies, die ihrer Zeit voraus waren', in die Wissenschaft eingemeindet worden. Als Entwürfe des Wünsch-, Vorstell- oder Lebbaren, als Imaginationen, Kreationen und Artefakte sind sie Medium und Produkt der poetischen und künstlerischen Einbildungskraft, der sich die Entstehung von Literatur, Kunst und Musik verdankt. Im Modus von Träumen, Phantasmen, Phobien und Zwangsvorstellungen werden sie von der Psychoanalyse als Ausdruck psychischer Konflikte ernst genommen und bearbeitet. Und schließlich stellen diejenigen Bereiche der Wirklichkeit, denen die visionären Erscheinungen gelten und die als unsichtbar oder unzugänglich bewertet werden, eine ständige Herausforderung dar: Quelle von Technikvisionen und der Entwicklung technischer und medialer Apparate, mit deren Hilfe das menschliche Auge sich 'das Unsichtbare' – sei es das Innere des Körpers, die Gedanken und Gefühle, das Universum oder die Elementarteilchen – erschließt oder zu erschließen wähnt.

Dabei lässt sich eine eigentümliche Dialektik des Visionären beobachten. Die Tatsache, dass alternative Gesellschaftsentwürfe, Utopien, Technikphantasien und Zukunftsbilder unter dieselbe Kategorie fallen wie religiöse Erscheinungen, Halluzinationen, Gesichte, Geistervorstellungen oder auch unrealistische Wünsche das eigene Leben betreffend, begründet sich durch die ihnen allen gemeinsame Gegenstellung zu einem Konzept von Wirklichkeit, demzufolge sich diese im positiv Gegebenen, sinnlich Wahrnehmbaren, Erklär- und Begreifbaren erschöpft. Visionen bezeichnen also dasjenige, was eine rationale, überprüfbare, vernünftige, aufgeklärte Durchdringung der Wirklichkeit hinter sich gelassen und überwunden, von sich abgespalten und als irrational oder unwissenschaftlich abqualifiziert, aus der erklärbaren Welt ausgegrenzt und in den Bereich des Übersinnlichen, Unsichtbaren oder Unrealistischen verwiesen hat. Dort aber entfalten die Visionen, gerade aufgrund ihrer Vertreibung aus der sanktionierten Wirklichkeit, ein umso farbigeres und ganz offensichtlich ein umso faszinierenderes Eigenleben: in Gestalt esoterischer Überzeugungen, pseudowissenschaftlicher Welterklärungen und sektiererischer Zirkel. Anders wäre weder die Erfolgsgeschichte visionären Denkens noch die Besessenheit zu erklären, mit welcher deren Anhänger ihren Vorstellungen folgen. Visionen tendieren dazu, buchstäblich nach den Sternen zu greifen, sie neigen zum Absoluten und fordern dazu heraus, im Leben abgebildet zu werden, um die Erscheinungen realiter und materiell in Erscheinung treten zu lassen.

Die Ausgrenzung der Visionen aus den exakten Wissenschaften ist aber auch für diese selbst nicht ohne Folgen geblieben. Wenn gegenwärtig in der aktuellen Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung allenthalben der Ruf nach Visionen und frei flottierender, ungesteuerter Kreativität laut wird und die Intuition hoch im Kurs steht, dann ist das ein Zeichen für den drohenden Leerlauf einer auf Kalkulierbarkeit ausgerichteten Wissenschaft. Wo 'Big Science' im bürokratischen und phantasielosen Geschäft endloser Versuchsreihen zu versanden droht, wird der Wert der einzelnen Forscherpersönlichkeit mit ihrer Inspiration und ungeteilten Neugier wiederentdeckt.

Am Umschlagsplatz zwischen verschiedenen Vorstellungen von Wirklichkeit besetzen Visionen einen sensiblen Ort, der über die Einteilung der Welt in die gegebene und eine unzugängliche, übernatürliche oder übersinnliche Sphäre entscheidet, in Faktisches und Vermutetes, in Diesseits und Jenseits, in Sichtbares und Unsichtbares. Insofern sind Visionen Grenzphänomene, die nicht zuletzt auch den Austausch und den Streit zwischen den zwei Kulturen betreffen. Während die Natur- und Technikwissenschaften mit ihrem Projekt, die Naturgesetze zu erforschen und zu erklären, 'naturgemäß' dem Reich der Visionen skeptisch gegenüberstehen, sind die Geistes- und Kulturwissenschaften seit jeher mit Grenzgängen zwischen verschiedenen Welten befasst und den Umgang mit dem Wunderbaren und Übernatürlichen gewohnt.

Eine einschlägige und wirkmächtige Tradition sieht die Bedeutung von Kunst und Poesie gerade darin, immaterielle, unsinnliche Vorstellungen sichtbar zu machen, indem sie diese in Gestalt fasslicher, körperlicher Bilder zur Darstellung bringen. Als angestammtes Gebiet aller denkbaren und vorstellbaren Erscheinungen bilden die Künste eine Art mittlerer Position zwischen der sanktionierten, positiven Welt und der Sphäre des Unsichtbaren. Während den Produkten der Einbildungskraft oder auch aller Sinne (einschließlich des 'sechsten') in den Künsten keinerlei Begrenzungen auferlegt sind, erhalten sie ihr uneingeschränktes Existenzrecht dort zumeist um den Preis, ein gesondertes und eingezäuntes Reich der Fiktion darzustellen, das für das, 'was zählt', nicht in Betracht zu ziehen ist. Dem zum Trotz wurde die Einbildungskraft immer wieder als Vermögen eines unverzichtbaren Möglichkeitssinns, wenn nicht als 'Wissenschaft vom Möglichen' und Wünschbaren in Anschlag gebracht (→ Willer). Denn die Einbildungskraft gründet in der Doppelnatur des Sehens, in der Gleichzeitigkeit und im Wechselspiel zwischen 'innerem' und 'äußerem' Sehen. Die daraus erwachsene Zweideutigkeit sprachlicher und visueller Bilder hat eine Geschichte von Deutungsmethoden hervorgebracht, in denen sich die Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem wiederholt und als Streit zwischen buchstäblichem und übertragenem Sinn, zwischen konkreter und allegorischer Bedeutung ausgetragen wird. Insofern sind diejenigen Fächer, die sich der Theorie und Geschichte von Texten und Bildern widmen (u.a. Religionswissenschaft, Theologie, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaften) von der Sache her immer schon mit der Doppelnatur des Sehens, mit Visio und Visionen, befasst. (→ Weidner, Mitchell, Kernmayer).

Andererseits hat die forcierte Entwicklung von Techniken und Medien den Versuch beflügelt, endlich die bis dato unzugänglichen und unsichtbaren Sphären mit Hilfe eines durch Mikroskop, Fotografie, Röntgenstrahlen aufgerüsteten Blicks dingfest zu machen – oder auch der Schönheit der Kunst auf den Leib zu rücken (→ Kornmeier). Insofern stellt sich die Moderne als Epoche der Technikvisionen im doppelten Sinne dar: als Zeitalter nicht nur beschleunigter technischer Erfindungen und der Entwicklung technologischer Verfahren, sondern auch als Zeitalter technischer Visionen im buchstäblichen Sinne, eines technischen Sehens. Damit wurde eine neue Epoche im Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem eingeleitet. Seit dem 19. Jahrhundert lassen sich zahlreiche Projekte beobachten, die eine bemerkenswerte trading zone zwischen empirischer Wissenschaft und der Welt von Visionen und übernatürlichen Erscheinungen bilden, sei es als Versuch, Immaterielles oder Unsichtbares mit den Methoden exakter Wissenschaft zu erfassen oder umgekehrt das visionäre Denken für die Naturwissenschaften fruchtbar zu machen (→ Petzer, Solhdju).
Sigrid Weigel

Medienecho

01.11.2010
Visionen – Sehen des Unsichtbaren

Radiorezension von Thomas Palze, in: Bayerischer Rundfunk, Bayern 2, Sendung: nachtstudio.kleinformat vom 26.10.2010 (gekürzte Fassung)