Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)

Spiel e n

Trajekte 22
Berlin 2011, 52 Seiten
ISSN: 1616-3036
  • The Political Theater of Alain Badiou – Alain Badious politisches Theater
  • Das Ereignis (Alain Badiou)
  • Die Realität des Spiels im Theater (Hans-Christian von Herrmann)
  • Bentham spielen (Jörg Thomas Richter)
  • "Sinn und Bild nach Belieben machen." Wilhelm Heinses Anastasia und das Schachspiel (Almut Hüfler)
  • Affenpuppe und Brudersteine (Aurélia Kalisky)

Aus dem Archiv

  • Strategische Voraussicht. Oskar Morgenstern und die Anfänge der Spieltheorie (Wolfgang Pircher)
  • Selbstorganisation, Spiel, Synergie (Tatjana Petzer)

Bildessay

  • Deep Play (Harun Farocki)
  • Das Spiel mit dem Spiel (Uta Kornmeier)
  • Das offene Spiel. Über die Möglichkeiten des Fußballs (Stefan Willer)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Was haben Kinderspiel, Theaterspiel, Kartenspiel und die spieltheorischen Experimente in den Wirtschaftswissenschaften gemeinsam? Was – über das Wort Spiel hinaus – verbindet das Musikspiel mit dem Fußballspiel, dem Liebesspiel und den Sprachspielen Wittgensteins? Bandbreite und Bedeutungsfacetten des Worts scheinen so vieldeutig, dass sich das Gemeinsame nicht so leicht erschließt. Sie werden schon darin kenntlich, dass das 'Spiel' nicht nur einen Gegenbegriff kennt: je nach Kontext und Auffassung werden ihm z.B. der Ernst, der Zweck, die Realität und die Regel entgegengesetzt – oder auch der Terror, wie im Band IV von Poetik und Hermeneutik über Probleme der Mythenrezeption (Terror und Spiel, 1971). Dabei meinen wir doch zu wissen, was es mit dem Spiel auf sich hat. Anders wäre nicht zu erklären, wie gebräuchlich Wortbildungen mit Spiel sind.

Denkt man allein an jene Komposita, bei denen dem Spiel ein anderes Nomen vorangestellt wird, dann eröffnet sich durch diese Operation nicht nur der Raum einer Taxonomie, in dem sich verschiedene Klassen von Spielen unterscheiden lassen: Schauspiel, Kinderspiel, Glücksspiel, Gesellschaftsspiel, Rollenspiel. Es wird auch eine nahezu endlose Reihe von Varianten eröffnet, die nach vorne, zur Zukunft hin offen ist: neue Zeiten, neue Medien, neue Spiele – wie die im vordigitalen Zeitalter aufgewachsene Generation beim Auftreten der Computerspiele hat lernen können. Die Spielarten bezeichnen hingegen nicht nur, wie in der Biologie, eine untergeordnete Ebene der Taxonomie; sie eröffnen auch die Möglichkeit eines Spiels innerhalb der jeweiligen Spielregeln. Als Spielarten bezeichnet man auch Handlungsvarianten bzw. wieder erkennbare Muster im Umgang mit bestimmten Aufgaben oder Problemlösungen. Mit solchen Komposita, bei denen dem Spiel ein zweites Wort angehängt wird – neben Spielart etwa Spielraum oder Spielzeit – vergrößert sich seine semantische Spannbreite erheblich. Mit dieser Operation befinden wir uns an der Schwelle zum metaphorischen Gebrauch. Mit dem Spielmaterial und dem Spielraum bestimmter Aufgaben oder Handlungen sind wir nicht mehr unbedingt im Spiel. Vielmehr wird das 'im Spiel sein' hier zu einer Metapher für individuelles Agieren im definierten Umfeld, – sei es einer Gruppe, der Gesellschaft oder des Weltmarkts: neue Horizonte, neue Spieltypen, wie die Konjunktur der 'global player' zeigt.

Die Spielmetapher in der Beschreibung der Kultur hat zwei entgegen gesetzte Enden: Das eine reicht in den Himmel, das andere auf die Erde. Ersteres ist der Fall, wenn nicht Handlungsmodi und Entscheidungen im Blick sind, sondern die Welt umgekehrt als ein Geschehen erscheint, das sich nach undurchschaubaren, 'höheren' Gesetzen bewegt. So wurde schon in der Antike der Mensch als "Spielzeug Gottes" (Heraklit) betrachtet, und noch Novalis fragte (im Allgemeinen Brouillon), ob nicht auch Gott und die Natur spielten, womit er die Welt als Produkt einer göttlichen ars combinatoria versteht, die die Menschen in ihrer eigenen poiesis nachzuahmen suchen: "Die Sprache ist ein eignes Ideen Instrument. Der Dichter, Rhetor und Philosoph spielen und componieren grammatisch." Hingegen verkehrt Nietzsche das Bild von der Welt als "göttliches Spiel", indem er die Idee Gottes als Dichtung im Weltenspiel wertet. In ironischer Gegenstellung zum Gleichnisstatus der Unvergänglichkeit in Goethes Faust führt er sein Welt-Spiel ein: "An Goethe/ Das Unvergängliche/ Ist nur ein Gleichnis!/ Gott der Verfängliche,/ Ist Dichter-Erschleichnis.// Welt-Rad, das rollende,/ Streift Ziel auf Ziel:/ Not – nennts der Grollende, / Der Narr nennts – Spiel.// Welt-Spiel, das herrische/ Mischt Sein und Schein: -/ Das ewig-Närrische / Mischt uns hinein!" (Lieder des Prinzen Vogelfrei, 1887) Im Antichrist, wo er den 'Glauben' als "Spiel der Instinkte" deutet, heißt es dann: "Wer nach Zeichen dafür sucht, dass hinter dem großen Welten-Spiel eine ironische Göttlichkeit die Finger handhabe, er fände keinen kleinen Anhalt in dem ungeheuren Fragezeichen, das Christentum heißt."(1888) Noch bevor Sigmund Freud die Erzählungen der religiösen Überlieferung als Produkte einer "archaischen Erbschaft" verdrängter Schuldgefühle der Vorfahren deuten wird, hat Nietzsche die Positionen zwischen Gott und Menschen im Weltspiel verkehrt.

Das irdische Ende des Spiels verbindet sich mit der Geschichte der Festkultur von repräsentativen höfischen Spielen bis zum Florentiner Fußball in der Medici-Kultur der Renaissance (Bredekamp 2006). Aus Vergnügen, Tanz und Zeitvertreib geboren – so jedenfalls die etymologische Spur: mhd. spil für die Formen des mittelalterlichen Festwesens wie Tanz, Wettkampf, Musik – ist das Spiel in der Moderne zur Meistertrope der Kultur geworden; die Gesellschaft ist nun ein Wechselspiel von Begrenzung und Freiheit. Seine Dynamik bezieht es aus der Spannung zwischen Regelförmigkeit und dem freien Kräftespiel. Mit den sogenannten Gesellschaftsspielen können sich deren Mitglieder in codifizierte Verhaltensweisen üben – das Spiel als Entscheidungs-Probe – und sich gleichzeitig von deren Alltag und Zweck ablenken. Während sich hier das Spiel in Abgrenzung vom Werktag und durch eine klare zeitliche und räumliche Einfriedung definiert – ähnlich dem Karneval, der sich allerdings als Verkehrung der Normen und damit als Extremform des Festes darstellt – werden im Paradigma der Kultur als Spiel die gemeinsamen Regeln und Grenzen als gegeben vorausgesetzt. Dass es dabei zu Missverständnissen kommt, ist unvermeidlich, weil die Spielmetapher den tatsächlichen Agon zwischen unterschiedlichen Regelwerken verdeckt, was zur Agonie einzelner Regeln oder Akteure führen kann. Womit aus dem Spiel bitterer Ernst wird.

Aus der Sicht der eigenen Spielregeln können Akteure, die anderen Regeln folgen, schon mal zu Spielverderbern werden. Das musste die Gemeinschaft der Akademiker jüngst erleben, als sie auf der von Person und Stand unabhängigen Geltung der "Regeln guten wissenschaftlichen Verhaltens" bestanden hat und damit in Streit mit einer neuen Variante des Medienspiels der politischen Klasse geraten ist: hier die Dissertationsordnung und die Normen wissenschaftlicher Autorschaft, dort die neuen Spielregeln der Politik, die durch wöchentliche Politbarometer geprägt sind. Immer wenn im Spiel ein Streit ausbricht, heißt das: entweder einer hat geschummelt, wird erwischt und darf nicht weiter mitspielen, oder die Akteure folgen unverträglichen Regeln, – womit ein Kampf auf dem Spielfeld ausbricht. Der letztere Fall wirft die Frage auf, wem die Deutungshoheit zukommt, die Regeln auszulegen. Denn das Spiel ist in einer Hinsicht absolut: innerhalb seiner Grenzen gibt es keine Ausnahme. Insofern war der jüngste Streit um die Doktorarbeit eines Ministers lehrreich. In ihm ließ sich beobachten, wie auf dem Wege der Sprachregelung (die Rede vom "Fehler") eine Umdeutung allgemeiner Verhaltensregeln stattgefunden hat: Beliebtheit und Ausstrahlung wurden in den bürgerlichen Tugendkatalog aufgenommen und in den gleichen Rang erhoben wie Verantwortung und Ehrlichkeit. Der Fall zeigt aber auch, wie fatal die Spielmetapher ist, wenn es um grundlegende Normen geht. Denn im Unterschied zu Gesetzen sind Spielregeln verhandel- und definierbar – allerdings nur vor Beginn des Spiels. Dagegen gilt in der Politik nur im Falle eines Ausnahmezustands, dass Souverän ist, wer in Absehung der geltenden Gesetze über die Situation entscheidet. Dass der Verteidigungsminister a.D. in seinen Selbstverteidigungsreden die toten Soldaten in Afghanistan bemüht hat, wird so als Versuch lesbar, sich mit der Aura eines solchen Ausnahmezustands zu umgeben, in deren Schatten dann die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens zu einer vernachlässigenswerten Größe werden. Seine Verteidiger führten dagegen ein eher schlichtes Modell von 'Ausnahme' ins Feld, das Bild vom Ausnahmepolitiker.

Zurück zum Spiel. Vor dem Horizont der schier grenzenlosen Spielmetapher scheint es vielversprechender, nach Ort und Bedeutung des Spiels in der Kulturgeschichte zu fragen. Auf der einen Seite steht die Vorstellung vom Spiel als einer zentralen anthropologischen Figur, wenn nicht Konstante: ob im Bonmot der Pascalschen Pensées, die Menschen suchten im Spiel nur die Jagd und nicht die Beute; ob in der Feststellung aus Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), der Spieltrieb mache den Menschen zum Menschen; oder in Johan Huizingas Theorie vom Homo Ludens (1938). Hier kommt dem Spiel vor allem die Bedeutung einer Einübung von Handlungen "innerhalb festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln" zu, womit das Spiel zu einem zentralen Faktor von Akkulturation und Erziehung wird. In einem eher kulturgeschichtlichen Deutungsmodell kommt dagegen die Herkunft des Spiels aus dem Kult zum Zuge, sowie – im Paradigma 'Vom Kult zur Kultur' – deren Umformung etwa in den Dionysien und der griechischen Tragödie. Eine Ableitung aus dem kultischen Ursprung des Spiel begründet auch Roger Callois Les Jeux et les Hommes (1958) mit seinen vier Grundformen des Spiels: Agon (Wettkampf), Alea (Zufall), Mimikry (Maske), Ilinx (Rausch).

Freuds Psychoanalyse entdeckt hingegen im Spiel eine Urszene symbolischen Handelns. Im berühmten Fort-Da-Spiel in Jenseits des Lustprinzips (1920) beschreibt Freud, wie das Kind mithilfe eines Übergangsobjekts (der Spule) einen Verlust (die abwesende Mutter) bearbeitet, diesen Verlust im Akt einer symbolischen Nachahmung gleichsam verkehrt und sich auf diese Weise in eine aktive Position bringt. Das Spiel steht damit am Anfang des Vermögens zur symbolischen Handlung. Ihm einen angemessen Ort in der Theorie der Symbolischen Formen (Cassirer) zukommen zu lassen, beschäftigt viele kulturwissenschaftliche Annäherungen an das Spiel. Wenn das mimetische Vermögen, wie Walter Benjamin beschrieben hat, im Verlaufe der onto- und phylogenetischen Entwicklung in Sprache und Schrift hineingewandert ist, dann lassen sich auch Wittgensteins Sprachspiele in dieser Perspektive begreifen.

Sigrid Weigel