Diaspora und Gesetz. Kultur, Religion und Recht jenseits der Souveränität
Welche Bedeutung hat das Zusammenleben verschiedener Religion und Kulturen für das Recht? Dieser Frage geht die Jahrestagung des Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien in Berlin-Brandenburg nach.
Die hitzige europäische Debatte über die 'Flüchtlingskrise' hat gezeigt, dass Recht notwendiger und zugleich umstrittener denn je ist. Auf internationaler Ebene greifen verschiedene, sich überschneidende Rechtssysteme ständig ineinander, etwa im Kontext der Europäischen Union der Menschenrechte. Auch im Kontext kultureller Diversität und in Konflikten zwischen religiösen Normen und säkularer Institutionen entstehen immer komplexere legale Probleme. Zugleich steht auch die Neutralität des Rechts unter wachsendem Druck, sei es von verschiedenen globalen transnationalen Akteuren oder durch Forderungen, das Recht habe sich an den Willen des Volkes anzupassen.
Die historische Perspektive kann zeigen, dass solche Konflikte nicht unauflösbar sein müssen. So hat die lange jüdische Erfahrung mit nichtstaatlichem Recht immer wieder Formen der rechtlichen Selbstbestimmung unterhalb des Staates hervorgebracht und sie in verschiedenen Konzeptionen der Diaspora auch theoretisch reflektiert. Das talmudische Prinzip der Dina de malchuta dina (das Gesetz des Landes ist das Gesetz) wurde angewandt, um die Gesetze der jeweiligen Gastländer zu akzeptieren und auch säkulares Recht in die jüdische Rechtsreflexion zu integrieren und das oft prekäre Gleichgewicht zwischen politischer Partizipation und kultureller Autonomie auszutarieren.
Dabei beschränkt sich die Tagung nicht auf das Judentum. Denn heute richten sich die Vorwürfe, die im 19. Jahrhundert gegen Juden erhoben wurden – sie würden einen "Staat im Staat" bilden, ihre Religion sei irrational und archaisch etc. –, oft auch gegen andere Gruppen, etwa gegen Sinti und Roma oder Muslime. Die Debatten um Kopftuch, Beschneidung oder das Schächten zeigen auf unheimliche Weise vertraute Bruchlinien. Kulturelle und religiöse Normen von Mehrheiten und Minderheiten geraten auf eine Weise in Konflikt, die rechtlich, politisch und diskursiv schwer handhabbar zu sein scheint. Die Fragen, wie eine multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft regiert werden kann oder wie Religion und ihre verschiedenen Formen konzeptualisiert werden können, sind zu zentralen Herausforderung der 'postsäkularen' Gesellschaft geworden. Diese Fragen könnten von wesentlicher Bedeutung sein, um einen Dialog verschiedener Positionen zu eröffnen, gerade weil die Divergenzen und Differenzen nicht nur Probleme bergen, sondern auch große kreative Potentiale bieten.
Programm
Sonntag, 17.11.2019
Ort: Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum, Oranienburger Straße 28–30, 10117 Berlin, Großer Saal
18.00
- Liliana R. Feierstein/Daniel Weidner: Eröffnung
- Grußworte
- Susannah Heschel (Hanover): "Love me Like a River" – Can Religious Law Survive in an Era of Global Diasporas?
Musikalische Gestaltung: Jascha Nemtsov
anschließend Empfang
Montag, 18.11.2019
Ort: Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Senatssaal
09.30
- Liliana R. Feierstein/Daniel Weidner: Einführung
10.00–12.00
- Elisa Klapheck (Paderborn): Dina deMalchuta Dina. Die jüdische Theologie des Rechtsstaates
- Charlotte Fonrobert (Stanford): Marriage Law and the Constitution of Diaspora in Jewish Law
12.30–13.30
- Serdar Kurnaz (Hamburg): The Transformation of Sharia from a Law–Centered Understanding to Ethics
14.30–16.30
- Martin Heger (Berlin): Der Wandel von einem personalen zu einem territorialen Rechtsverständnis in Mittelalter und früher Neuzeit
- Menachem Lorberbaum (Tel Aviv): Dina deMalchuta Dina. From the Law of the King to the Law of the Republic
17.00–19.00
- Ino Augsberg (Kiel): Diaspomenos. Hermeneutics of Exile
- Christina von Braun (Berlin): The Alphabets as a Cradle of Religion and Law in Monotheism
Dienstag, 19.11.2019
Ort: Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Senatssaal
09.00–11.00
- Suzanne Last Stone (New York): The Intervention of American Courts in Jewish Divorce Law: A Pluralist Analysis
- Nahed Samour (Berlin): Stigma and German Law. Classifying Individuals, Targeting Communities?
11.30–12.30
- Marie–Claire Foblets (Halle): Diaspora Communities: an Opportunity for the Future of the Law
13.30–15.00 Workshops
- Stephan Probst (Bielefeld): Medizinrecht
- Jonah Sievers (Berlin): Eherecht
15.30–17.30
- Klaus Stierstorfer (Münster): Law and Literature in Diaspora: The Case of Gandhi’s Autobiography
- Caspar Battegay (Basel): Star Trek. Diaspora and Law in the German-Jewish Imagination