Erich Auerbach: Philologie – Geschichte – Verstehen
Programm
Konferenzsprache: Deutsch und Türkisch (mit Simultanübersetzung)
Der deutsch-jüdische Literaturwissenschaftler Erich Auerbach (9.
November 1892 bis 13. Oktober 1957) wurde aufgrund des „Gesetzes zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ unter dem Druck des
Nazi-Regimes von seinem Lehrstuhl für romanische Philologie an der
Universität Marburg im Herbst 1935 suspendiert. Ein Jahr später
emigrierte Auerbach nach Istanbul, wo er an der im August 1933 neu
gegründeten Istanbul-Universität bis September 1947 lehrte und sein
Hauptwerk „Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen
Literatur“ (1946) verfasste. Auerbachs türkische Exilzeit umfasst
insgesamt elf Jahre und stellt damit die längste Zeitspanne seines
gesamten akademischen Wirkens an einer Universität dar. Dem Ort Istanbul
und seinem sich dort herausbildenden intellektuellen Netzwerk ist daher
höchste Aufmerksamkeit im Kontext des wissenschaftlichen
Bildungstransfers zu widmen.
Aus Anlass von Auerbachs 50. Todestag
sollen unter dem Motto „Philologie – Geschichte – Verstehen“ die
historischen, literaturwissenschaftlichen, philosophischen,
religionssoziologischen, politischen und ästhetischen Prämissen von
Auerbachs komparatistischen Literatur- und Bildungsmodells zur Sprache
kommen. Es sollte danach gefragt werden, auf welche Weise Auerbachs
praktische Lebenserfahrungen im Umfeld des türkischen Säkularisierungs-
und Reformprozesses in seinem Werk reflektiert worden sind. Das im
Kontext von Mustafa Kemal Atatürks Modernisierungsprozess in der Türkei
erfahrene und spannungsgeladene Verhältnis von Tradition,
Traditionsabbruch und Erneuerung durchmisst Auerbachs Intention, die
überlieferten antiken, jüdisch-christlichen und modernen Erzähl-, Denk-
und Deutungsmuster zur Geltung zu bringen. Zu befragen wären seine Texte
hinsichtlich ihrer verborgenen und offenen Referenz auf die jüdische
Tradition, Auerbachs Beziehungen zur jüdischen Gemeinde Istanbuls und
der Geschichte des Judentums in dieser Stadt zur Zeit der dreißiger und
vierziger Jahre; ferner wäre der pädagogischen Ausrichtung seines
sensitiven Philologie-Begriffs im Zeitalter der Ökonomisierung der
Hochschulen eine aktuelle Bedeutung und Interpretation beizumessen; auch
im Hinblick auf Auerbachs philosophische Grundlagen im Kontext von
Giambattista Vicos und Hegels Geschichtsphilosophie stünden
lebensphilosophisch-autobiographische Konzepte zur Diskussion, die aus
dem Kreis der Philosophen Josef König, Georg Misch oder Karl Löwith und
Max Weber stammen.
Das Symposium knüpft damit auch an eine
vor drei Jahren am Zentrum für Literaturforschung Berlin stattgefundene
Auerbach-Tagung an; ihre Ergebnisse liegen jetzt in dem von Karlheinz
Barck und Martin Treml herausgegebenen Band „Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen“
(Berlin: Kadmos Verlag 2007) vor und beziehen sich auf unterschiedliche
Themenkomplexe wie Auerbachs literatursoziologischen Ansatz und seine
ideengeschichtlichen Prämissen; ferner werden in dem Band kaum bekannte
Texte und Briefe zugänglich gemacht, die teils in Berlin, Marburg,
Istanbul oder in den USA entstanden sind. Aufgrund der neuen
Publikationslage besteht also genügend Diskussionsstoff für das
Symposium, und die vorgeschlagenen, stichwortartigen Inhalte von
möglichen Themen mögen Ihnen lediglich als Orientierungspunkte gelten,
um eigene Vortragsthemen zu entwickeln.
Am „Zentrum für Literatur-
und Kulturforschung“ entsteht jetzt unter Leitung von Martin Vialon eine
Ausgabe von Briefen, die ermöglicht, Auerbachs Erfahrungen als Exilant
in der Türkei mit seinen in den Schriften vorgenommenen
literaturwissenschaftlichen und philosophischen Extrapolationen zu
parallelisieren. Zum Symposium wird eine Vorauswahl einiger Briefe unter
dem Titel „Martin Vialon (Hrsg.): ‚Und wirst erfahren, wie das salzige
Brot der Fremde schmeckt’. Erich Auerbachs Briefe an Karl Vossler
(1926-1948)“ (Warmbronn: Verlag Ulrich Keicher 2007) vorliegen, worin
unter anderem ersichtlich wird, dass Auerbach sein Verhältnis zur
jüdischen Deutungstradition in Form von Kassibern durch
literaturhistorische Interpretation Dantes – des kanonischen Dichters
des Exils – verarbeitet hatte. Eine Lesung und Erläuterung einiger
Exilbriefe ist im Rahmen des Symposiums vorgesehen; in Arbeit befindet
sich auch eine türkische Auswahlausgabe von Essays und Briefen (Metis
Verlag Istanbul), die von Sezgi Durgun und Haluk Barişcam übersetzt
wurden, von Martin Vialon eingeleitet und herausgegeben werden
(möglicherweise wird diese Edition zum Symposium vorliegen). Ebenso kann
zur weiteren Vorbereitung und Erörterung die kommentierte
englischsprachige Übersetzung von einigen Briefen (an Erich Rothacker,
Walter Benjamin, Fritz Saxl, Traugott Fuchs, Martin Hellweg und Karl
Vossler) herangezogen werden; die Briefe erscheinen mit einer Einleitung
diesen Sommer unter dem Titel „Scholarship in Times of Extremes:
Letters of Erich Auerbach (1933-1946), on the Fiftieth Anniversary of
his Death. Introduction and Translation by Martin Elsky, Martin Vialon,
and Robert Stein” (in: Publications of the Modern Language Association
of America [PLMA], July 2007). Schön wäre es, wenn an dem ehemaligen Ort
von Auerbachs Wirken und 50 Jahre nach seinem Tod durch Ihre Teilnahme
ein Signal gesetzt werden könnte, um dem allgemein vorherrschenden
Phlegmatisierungsprozess im Jahr der Geisteswissenschaften etwas
Substantielles entgegenzusetzen.
Freitag, 14. 12. 2007
09.00
Begrüßung
Matthias von Kummer (Deutscher Generalkonsul, Istanbul)
Claudia Hahn-Raabe (Leitung des Goethe-Instituts, Istanbul)
Einführung
Martin Vialon (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin/Yeditepe University, Istanbul)
09.30-11.00
Karlheinz Barck/Martin Treml/Kader Konuk: Auerbach neu lesen: Von der Berliner Jahren zum Istanbuler Exil
11.30-12.30
Hans-Jörg Neuschäfer: Zurück auf den Teppich. Für eine Philologie der Anschaulichkeit
12.30-13.30
Süheyla Artemel: Stilistik und literarische Kritik bei Erich Auerbach, Leo Spitzer und Traugott Fuchs
15.00-15.15
Ludmila Ilinikh: Auerbachs Flügel: Romantische Klaviermusik
15.15-16.15
Matthias Bormuth: Ambivalenz der Freiheit: Erich Auerbach als Theoretiker der Moderne
16.15-17.15
Caroline Marburger: Alexander von Rüstow und Erich Auerbach: Vereinzelung und Standardisierung im Prozess der Säkularisierung
17.45-18.45
Leopoldo Waizbort: Solidaritätskreis in Istanbul: Erich Auerbach und Hellmut Ritter?
18.45-19.45
Martin
Elsky/Martin Vialon: Scholarship in Times of Extremes/Reflexionen zum
Exil – Lesung von Auerbach-Briefen in englischer und deutscher Sprache
Samstag, 15. 12. 2007
09.00-10.00
Jane O. Newman: Figuren der Romanistik: Auerbach/Krauss, Pascal/Corneille
10.00-11.00
Jan
Müller: "Mimesis" als "werktätiger Lebensvollzug". Bemerkungen zum
systematischen Verhältnis der Literaturtheorie Erich Auerbachs zur
"Göttinger Lebenshermeneutik" Georg Mischs und Josef Königs
11.30-12.30
Turker Armaner: Auerbach und Hegel
12.30-13.30
Mediha Göbenli: Gegen die Enthistorisierung der Literaturwissenschaft: Erich Auerbachs "Philologie der Weltliteratur"
15.00-16.00
Giacomo Saban: Souvenirs zu Erich Auerbach, seiner Familie und zum Judentum in Istanbul
16.00-17.00
Rifat Bali: Juden in Istanbul. Die Geschichte von 12 schwierigen Jahren: 1933-1945
17.30-18.30
Martin
Elsky: Erich Auerbach: Nationalität, Identität, Religion: Figurale
Deutung, Judentum und ein Blick zurück auf die deutsch-liberale
Bibelhermeneutik
18.30-19.30
Martin Vialon: Verborgenes und offenes Judentum bei Erich Auerbach
19.30
Oksana Batalowa: Choreographische Darbietung nach der Filmmusik von "Schindler Liste"