Europäische Perspektiven auf den Koran: ein historisches Forschungsprojekt mit kulturkritischem Anspruch
Programm
Zum Vortrag
Der Koran ist nicht nur ein islamischer,
sondern auch ein 'europäischer Text'. Die hier unternommene
Relokalisierung des Koran in die Spätantike, seine "europäische
Lektüre", ist kulturkritisch für beide Seiten relevant, die europäische
wie die nahöstliche: Sie trifft sich mit der Geschichtsdeutung
avantgardistischer arabischer Intellektueller, die sich gegen die
Konstruktion einer Epochengrenze zwischen Spätantike und Islam wehren,
nach welcher – muslimisch gesehen – mit dem Koran und Islam etwas
absolut Neues, oder, europäisch gesehen, etwas substantiell 'anderes',
beginnt. Der Koran ist zwar Gründungstext der islamischen Religion, er
ist aber – historisch gesehen und gegenläufig gelesen – ein
noch-nicht-muslimischer Text, der sich an plurikulturelle spätantike
Hörer wendet, die Antworten auf ihre mit Juden und Christen geteilten
theologischen Fragen suchten. Mit der Reintegration des Koran und des
frühen Islam in den traditionell von Europa monopolisierten spätantiken
Nahen Osten wird der bisher ausgeblendete Beitrag des Koran zu der
faktisch gemeinsamen Theologie- und Kultur-Geschichte sichtbar gemacht –
eine Voraussetzung für die überfällige Korrektur unseres in der Antike
verankerten exklusivistischen Begriffs eines nur-jüdisch-christlichen
Europa.
Zur Person
Angelika
Neuwirth hat seit 1991 einen Lehrstuhl für Arabistik an der Freien
Universität Berlin inne, von 1994–99 war sie Direktorin des Orient
Instituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Beirut und
Istanbul. An der BBAW leitet sie seit 2007 das Forschungsprojekt Corpus Coranicum, am ZfL leitet sie das DFG-Projekt Figurationen des Märtyrers in nahöstlicher und europäischer Literatur. Seit Januar 2008 ist Neuwirth assoziierte Ko-Direktorin des ZfL.
Ausführliche Informationen über Angelika Neuwirth
Publikationen (Auswahl)
Studien zur Komposition der mekkanischen Suren: die literarische Form des Koran – ein Zeugnis seiner Historizität? (2Berlin 2007); Mitherausgeberin von: Arabesken (= Figurationen 1, 2005); Ghazal as World Literature Bd. 1 u. 2 (Beirut/ Würzburg 2005); Reflections on Reflections. Near Eastern Writers Reading Literature (Wiesbaden 2006); Arabische Literatur, postmodern (München 2004).
Siehe auch: Der Koran -- europäisch gelesen. Artikel von Angelika Neuwirth, in: Neue Zürcher Zeitung vom 29.3.2008