Gnosis und Literaturforschung
Programm
Gnosis, im griechischen Lexikon ein Begriff für "Wissen", ist eine
antike religiöse Erlösungsbewegung, aber auch ein Sammelbegriff für
mythopoetische Geschichtstheologien. Religionsgeschichtlich betrachtet,
erscheint sie als bricolage persischer, jüdischer, christlicher
und paganer Traditionen unter neuen Verhältnissen, als ein Produkt des
"Laboratoriums" (Chr. Markschies) der Theologien der ersten
nachchristlichen Jahrhunderte. Wie diese als ein "Zeitalter der Angst"
(E.R.Dodds) gelten, so wird die Gnosis oft als eine Gegengeschichte zu
den großen Figuren und Systemen Europas aufgefaßt. Ihre Vertreterinnen
und Vertreter hätten Positionen der selbstermächtigenden Erkenntnis, der
Gleichheit zwischen den Geschlechtern, der Techniken zur Weitergabe
esoterischen Wissens hervorgebracht. Verfolgt und zertreten, aber nur
äußerlich ohnmächtig und unbesiegt seien sie inmitten des römischen
Imperiums zum Widerstand gegen "den Herren und die Mächte der Welt"
befähigt gewesen, unberührt von rauschhafter Verausgabung in
Kollektivekstasen.
Auch aufgrund dieses Narrativs erschien die
Gnosis im letzten Jahrhundert in großer Nähe zu avancierten Positionen
sowohl der Kulturwissenschaften als auch der Künste. Erstaunen läßt,
dass dies in Absehung üblicher wissenschaftlicher, religiöser und
politischer Grenzen geschah. Adolf von Harnack, der mit Ausnahme von
Propheten und Psalmen das Alte Testament aus dem christlichen Kanon
ausgeschieden wissen wollte, näherte sich mit seinem Vorhaben demjenigen
Marcions, eines Theologen des 2. Jh. und nachmaligen Häretikers. Hans
Jonas führte seine Analyse gnostischen Geistes mit einem Vokabular
durch, das er der Philosophie Martin Heideggers entlehnte. Simone Weil
wollte ihren politischen und intellektuellen Kampf gegen "das große
Tier" gerichtet sehen. In der russischen Religionsphilosophie um 1900
galt Gnosis als Kampfbegriff sowohl gegen die Orthodoxie als auch gegen
den (westlichen) Materialismus. Den gelegten Spuren wird in den
Montagssitzungen des FSP I in diesem Sommer nachgegangen.
Begonnen
wird aber mit einem öffentlichen Workshop, zu dem alle Interessierten
herzlich eingeladen sind. An ihm nimmt auch Christoph Markschies teil,
Professor für Historische Theologie in Heidelberg. Diskutiert werden
soll das von ihm erstellte Porträt der Gnosis (u.a. in: Die Gnosis.
München: Beck 2001) anhand ausgewählter gnostischer Texte in Übersetzung
und der mögliche Gehalt der Beschäftigung mit der Gnosis für die
Literaturforschung. Ein Reader mit gnostischen Texten, einem
Lexikonartikel von Chr. Markschies zur Gnosis und einem Aufsatz von
Harald Bloom zu Gnosis und Literaturforschung steht ab 28. April zur
Verfügung.