Vortrag
12.06.2014 · 14.45 Uhr

Matthias Schwartz: Die Ortlosigkeit der Raumkapsel. Zur Phantasmagorie der Figur des Kosmonauten

Ort: Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße - Stasi-Museum Berlin, Ruschestraße 103, Haus 1, 10365 Berlin

Programm

Vortrag im Rahmen des Workshops Orte. Nicht-Orte. Ab-Orte (12./13.06.2014)

Als Jurij Gagarin am 12. April 1961 als erster Mensch in einer Raumkapsel in den Weltraum flog, diagnostizierte Emmanuel Lévinas eine »Erschütterung der seßhaften Zivilisationen« und sagte dem frömmelnd-philosophischen »Aberglauben des Orts« sein Ende voraus: »Eine Stunde lang hat ein Mensch außerhalb jedes Horizonts existiert – alles um ihn herum war Himmel, oder genauer, alles war geometrischer Raum. Ein Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raums.« Jacques Lacan sah angesichts der »Ortlosigkeit« des im Raumschiff eingesperrten, schwerelosen Körpers des Kosmonauten gar eine neue Psychologie des Menschen aufscheinen, während Günther Anders in den »fliegenden Mumien« der Raumfahrer den Inbegriff des gänzlich von Maschinen gesteuerten und von industrieller Vernichtung bedrohten »ignoranten« Menschen erkannte. Das Raumschiff ist in der Literatur ähnlich wie das Schiff spätestens seit Lukian ein maximal phantasmatischer Ort gewesen: Ein Fortbewegungsmittel, mit dem man nicht nur allein um den eigenen Globus fliegen kann, um gleich wieder zurückzukehren, sondern mit dem man auch fort von jeglicher Kontrolle durch Familie, Gesellschaft und Staat in die Weiten des Weltalls ausbricht. In diesem Sinne ist die Raumkapsel Sinnbild des Versprechens, der irdischen Verortung zu entkommen, um im Kosmos andere, bessere, utopische, »ortlose« Raumzeiten und Horizonte kennenzulernen. Gleichzeitig ist das Raumschiff, das die Reichweite irdischer Überwachungstechniken hinter sich gebracht hat, aber auch ein völlig isolierter Ort, in dem der Mensch abgeschnitten von seiner irdischen Umgebung, nur auf sich gestellt ist, ausgesetzt den Gefahren von Meteoriten, kosmischen Strahlen, Spiralnebeln oder kosmischen Löchern. Diese Isoliertheit der Raumkapsel von jeglichem staatlichen, gesellschaftlichen Zugriff, dieser vollkommene Ausbruch aus allem, was bekannt ist, macht sie aber auch zu einer idealen Projektionsfläche für private Wünsche und intime Ängste, für geheime Begehren und latente Aggressionen, apokalyptische Visionen und identitäre Katastrophen. Der Vortrag geht solchen unterschiedlichen Phantasmogarien der Raumkapsel insbesondere anhand von Science-Fiction-Texten nach, wobei er die von Lévinas behauptete »Ortlosigkeit« Gagarins zum Ausgangspunkt nimmt, die vielfachen philosophischen, kulturanthropologischen und gesellschaftskritischen Implikationen dieses absoluten Ab-Ortes zu reflektieren.

Matthias Schwartz, Slawist and Historiker, arbeitet im ZfL-Forschungsprojekt Ost-westliche Affektkulturen.