Über den Begriff der Geschichte/Geschichte schreiben
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Tagungsprogramm und ausführliche Informationen
»In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen«. Dieser Imperativ aus Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte gehört inzwischen selbst zu einer Überlieferung, die bedroht ist. Scheint doch im Spektrum des Werks inzwischen gerade das Geschichtsdenken zu sehr metaphysisch-heilsgeschichtlichen oder revolutionären Erwartungen verpflichtet, um noch Impulse zu bieten, die heute aufzunehmen wären. Und wozu auch? Benjamins vielfältige Schriften bieten genug andere Anknüpfungspunkte. Aber wenn man es sich damit zu einfach machte? Über den Begriff der Geschichte ist der letzte einer Reihe von radikalen Versuchen, in denen Benjamin einen anderen Begriff von Geschichte gedacht hat. Von den frühen Schriften an geht es ihm darum, Vorstellungen von Geschichte als einem homogenen und leeren Zeitkontinuum aufzubrechen, das Vergangene als Unabgeschlossenes und die Zukunft als Unverfügbares zu denken. Das Historische ist nicht in der Vorstellung eines Entwicklungsverlaufs zu suchen, sondern in der Kategorie des Ursprungs zu erfassen, die diese Vorstellung vernichtet. Aus solchem Denken speist sich Benjamins Pathos der Aktualisierung des Gegenwärtigen und sein, wie er in einem Brief an Gretel Adorno schreibt, »von mir sehr esoterisch gehandhabte Begriff des ›Jetzt's der Erkennbarkeit‹«. Keiner Gegenwart ist das Gewesene besitzhaft zugänglich. Wenn heute im Internet alles, was sich ereignet hat, in universeller Zugänglichkeit präsent erscheint, manifestiert sich darin eine neue Gestalt des Historismus, den Benjamin als Pendant zur Fortschrittsideologie denunzierte?
Walter Benjamins Theorie der Geschichte, so lässt sich postulieren, nimmt unter den Geschichtstheorien des 20. Jahrhunderts eine in ihrer Radikalität singuläre Position ein. Sie als fragmentarisch oder essayistisch zu klassifizieren, unterschätzt die ihr innewohnende Kohärenz, argumentative Konsequenz und ihre besondere synthetische Kraft, indem sie geschichtsphilosophische, theologisch-messianische und politische Diskurse in durchaus wechselnden Begriffskonstellationen bündelt und transformiert. Trotz Benjamins enormer Wirkungsgeschichte ist sein Geschichtsdenken für die dominanten historiographischen Praktiken der Geisteswissenschaften nicht folgenreich geworden. Umso mehr ist es nötig, den Anspruch Benjamins, Geschichte anders zu denken, erneut zu überprüfen, um die darin angezeigten Chancen wahrzunehmen und das Hasardiöse seines Einsatzes zu bedenken. Der Kongress soll Benjamins kritische Position gegenüber den theoretischen wie politischen Diskursen seiner Zeit ins Zentrum rücken. Dabei wird es ebenso darauf ankommen, den historischen Abstand, der uns von Benjamins Kontext trennt, zu reflektieren wie seine Texte daraufhin zu befragen, wieweit sie Herausforderungen für eine Geschichtserkenntnis jenseits des ›Posthistoire‹-Geredes bereitstellen. Und es wäre seine Feststellung ernst zu nehmen, dass zu den geschichtlichen Veränderungen auch die Art und Weise, in der die menschliche Wahrnehmung sich medial organisiert, gehört.
Benjamin als Theoretiker historischer Erkenntnis zu thematisieren verlangt zudem, ihn als Praktiker des Schreibens von Geschichte wahrzunehmen. Nicht allein die großen Arbeiten wie Ursprung des deutschen Trauerspiels, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Deutsche Menschen oder das Passagen-Projekt stellen je spezifische Arten, Geschichte zu schreiben, dar. Nicht minder gewichtig werden in vielen kleinen Rezensionen, den Rundfunkarbeiten oder den Reiseaufzeichnungen am geschichtlich scheinbar Marginalen Erfahrungen reflektiert und überraschende historische Konstruktionen skizziert, die noch ihrer genaueren Erschließung sowohl im Blick auf die Quellen wie auf die besondere Schreibweise und Metaphernbildung harren.