Symposium
10 Jul 2014 – 11 Jul 2014

Der Erste Weltkrieg und die Erste Kulturwissenschaft

Venue: ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et.
Contact: Martin Treml, Daniel Weidner

Program

(Stand: 09.07.2014)

Donnerstag, 10.07.2014
15.00
Begrüßung

15.15–17.15

  • Matthias Schöning (Konstanz): Zeit der Ereignisse – Zeit der Interpretationen. Ernst Troeltsch, die Formen intellektueller Verstrickung in den Ersten Weltkrieg und deren Erkenntniswert
  • Johannes Steizinger (Wien): Walter Benjamins jugendliche Kriegs-Erfahrung. Ein Trauma und sein theoretisches Nachleben

17.30–19.30

  • Martin Treml/ Sigrid Weigel (ZfL): Aby Warburgs Projekte nach dem August 1914
  • Andreas Beyer (Basel): Zu Krieg und Kunst der Avantgarde


Freitag, 11.07.2014
10.00–11.00

  • Wolfgang Schivelbusch (Berlin): Annihilismus. Einige allgemeine Bemerkungen über den Zusammenhang von Vernichtung und Erlösung

11.15–12.15

  • Herbert Kopp-Oberstebrink (ZfL): »Trotz der ungeheuren Erregung muss man versuchen, möglichst ruhig zu bleiben«. Ernst Cassirer, der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Kulturphilosophie

13.30–15.30

  • Gerald Hartung (Wuppertal): Simmel über die Krisis der Kultur und die Erschütterungen des Krieges
  • Daniel Weidner (ZfL): Krieg als absolute Metapher. Max Schelers Philosophie des Krieges

Die Kriegserklärung Deutschlands gegenüber Frankreich und Russland Anfang August 1914 wurde von vielen deutschen Intellektuellen und Akademikern nicht nur mit Begeisterung aufgenommen; viele wollten im Krieg gar eine Erneuerung von Kultur und Gesellschaft sehen. Der Krieg, so das auch von etlichen Kulturwissenschaftlern formulierte Fantasma, würde die »Äußerlichkeit«, »Leere« und »Zersplitterung« der wilhelminischen Gesellschaft durch einen neu erwachten »Geist« und »Idealismus« ersetzen. Was im Innern den »Materialismus« der modernen Welt treffen sollte, richtete sich zugleich nach außen gegen die »Zivilisation« der anderen Nationen. Selbst die rasche Eskalation der Gewalt, auch gegen die Zivilbevölkerung (wie in Belgien), und selbst die Zerstörung historischer »Kulturgüter« (wie der Bibliothek von Leuwen und der Kathedrale von Reims) schienen die Kriegsemphase zunächst nicht zu schmälern. Auf derartige Ereignisse folgte eher die Beschwörung eines schicksalhaften »Kulturkrieges« mit den Folgen einer fatalen nationalen Frontbildung in den Künstler- und Intellektuellen-Gruppen Europas.
Während die »geistige Mobilmachung« (Flasch) von Schriftstellern und Geisteswissenschaftlern bereits Gegenstand kritischer Untersuchungen war, ist der Ort der Ersten Kulturwissenschaft in der Vorgeschichte des Krieges, sind die intellektuellen Reaktionen und theoretischen Antworten einzelner Kulturwissenschaftler auf die Ereignisse bisher weitgehend unbefragt geblieben. Die Irritation über einzelne dieser Äußerungen, die ein dunkles Licht auf den Kulturbegriff der Kulturwissenschaft werfen, ist Grund genug, das Verhältnis der Kulturwissenschaft zum Ersten Weltkrieg systematischer zu befragen. Ziel des Symposiums ist es, nach den unheimlichen Erbschaften der Kulturwissenschaft wie auch nach inneren Spannungen und Problemen zu fragen, die durch den Krieg manifest wurden.
Dabei kann es nicht um Ideologiekritik oder die derzeit wieder traktierte Schuldfrage gehen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob und in wiefern die für uns Heutigen schwer nachvollziehbare Haltung gegenüber dem Krieg Voraussetzungen in den theoretischen Grundlagen, Begriffen und Rhetoriken der um 1900 entstandenen Kulturwissenschaften hatte. Es soll also um die epistemischen Bedeutung der Kriegshaltungen und -deutungen für die Erste Kulturwissenschaft gehen: Was verraten sie über deren Deutungsansprüche und deren diskurspolitische Selbstverortung? Welches sind die Ereignisse, Erfahrungen und Kontroversen, die im Verlauf des Krieges bei einzelnen Autoren zur Revision ihre Position führten und was ist davon in die weitere Theoriearbeit eingegangen?
Wenn der Krieg etwa für Georg Simmel eine »mysteriöse Innenseite« hat und eine »absolute Situation« darstellt, weist das nicht nur auf Simmels lebensphilosophische Kulturlehre zurück; es verweist auch voraus auf ein neues zugespitztes Verständnis von Aktualität, das die Diskurse der Zwischenkriegszeit wesentlich prägen wird. Max Scheler beschwört einen »Genius des Krieges«, welcher der Gegenwart wieder einen in der Vorkriegszeit verschütteten Zugang zur Metaphysik, zu Leben und Tod und zum Göttlichen eröffne. Werner Sombarts berüchtigte Gegenüberstellung von (britischen) »Händlern« und (deutschen) »Helden« ist nicht nur ein geläufiges Ideologem, es muss auch im Kontext der für die erste Kulturwissenschaft typischen Gegenüberstellung vormoderner Kultur und aktueller Gegenwart gelesen werden, die schon Sombarts oder Max Webers Kulturgeschichte des Kapitalismus grundiert hat.
Die Ausweitung des Kulturbegriffs über eine enge, gegenstandsbezogene Bedeutung hinaus, seine anthropologische Vertiefung und das Interesse für die kultischen, rituellen und mythischen Ursprünge der Kulturgeschichte, all dies muss angesichts des Ersten Weltkriegs auf mögliche Entsprechungen zu den seinerzeit formulierten existenziellen Erneuerungs- und Erlösungsideen hin untersucht werden. Gerade die religiöse Rhetorik und der ›politische Messianismus‹ der Intellektuellen im August 1914 sind auf ihre Symptomatik für die zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Theoremen hin zu befragen. Hat womöglich auch das Interesse am »Nachleben der Religionen« in der Moderne auch Teil an der »geistigen Mobilmachung«? Und wie stellt sich unter diesem Blickwinkel die Aufkündigung der kulturprotestantischen Synthese von Religion und Kultur durch die Dialektischen Theologie dar? Welche Bedeutung hat der Krieg für die Neuverhandlung der ›Säkularisierung‹ der bürgerlichen Gesellschaft und die Karriere der Politischen Theologie in den Nachkriegsdiskursen? Vor dem Hintergrund der herausragenden Stellung jüdischer Autoren bei der Formulierung und Etablierung der Kulturwissenschaft und ihrer gleichzeitigen Randstellung in den universitären, »zünftigen« Disziplinen stellt sich auch die Frage danach, ob sich für sie eine andere oder besondere Perspektive auf den eskalierenden Patriotismus und das Kriegsgeschehen beobachten lässt.

Ein Reader mit kurzen Quellentexten oder -ausschnitten wird den Teilnehmern zur Vorbereitung zur Verfügung gestellt.