Operninszenierung und Podiumsdiskussion
13 Oct 2007 – 16 Oct 2007 · 1.00 pm

Infinito Nero (Salvatore Sciarrino)

Venue: Deutsche Oper Berlin, Bismarckstraße 35, 10627 Berlin

Program

Veranstaltung der Reihe zum Jahresthema des ZfL: Märtyrer. Schlüssel zum Verhältnis der Religionen und Kulturen

In Salvatore Sciarrinos Infinito Nero (Uraufführung 1998) nehmen die ekstatischen Äußerungen der karmelitischen Mystikerin Maria Maddalena de' Pazzi Gestalt einer Stimme an. Für seinen Text kompilierte Sciarrino einzelne Sätze und Worte aus den Protokollen, die Nonnen von den ekstatischen Ausbrüchen der Karmeliterin anfertigten, die 1607 starb und 1669 heilig gesprochen wurde. Wie Regieanweisungen verzeichneten die Protokollantinnen Gestik, vokale Inkarnationskunst – de' Pazzi stattete jede Figur der Passionsgeschichte, der sie in Visionen teilhaftig wurde, mit individueller Stimme aus – und Schweigen. De' Pazzi selbst ist in 'ihren' Texten abwesend, stattdessen ist ihnen die 'dritte Person' eingebrannt.
Sciarrino beschwört den uneinholbaren Augenblick selbstvergessenen Sprechens: Der in den Protokollen durch Datumsangaben gesetzte historische Zeitrahmen ist aufgehoben, Herzschlag und Atmung eines namenlosen Körpers erzeugen – durch Instrumente evoziert – Körperzeit. Allegorische Eindeutigkeit wird getilgt: Das Blut, in das sich die Seele gleich zu Beginn verwandelt, wird nicht explizit als Blut Christi ausgewiesen. Vielmehr vollzieht die Stimme diese Umwandlung in einem atemlosen Salto Mortale der Sprache 'am eigenen Leibe'. Trotz dieser übergroßen Nähe zum eingebildeten Leib bleibt die Differenz zu ihm angstvoll umspielte Schwelle. Sciarrinos Musik folgt so den Amplituden eines ekstatischen Diskontinuums der Zeit und der Körper.
Wenn Sciarrino auf Charcot und Bilder von 'Hysterikerinnen' verweist, spielen mehrere Ebenen kultureller Ekstaseinszenierung ineinander: Im Sinne einer Figur, die widerständig bleibt und sich durch spontane Identitätswechsel jeglicher semantischer Fixierung entzieht, kann die Hysterikerin fast als Prototyp der Musik Sciarrinos gelten, die weniger 'bedeutet' als vielmehr verkörpert. Das mystische Ich in Infinito Nero steht so in atemloser Nähe zu einer Leiblichkeit, die gleichermaßen Schatten, Geliebter oder Realpräsenz des Logos sein könnte.

Komponist: Salvatore Sciarrino
Salvatore Sciarrino (geb. 1947 in Palermo) erarbeitete sich seinen hochgradig individuellen Zugriff auf Musik als Autodidakt. Heute lehrt er am Konservatorium in Florenz. Seine Werke wurden u.a. bei den Schwetzinger Festspielen, an den Opernhäusern in Frankfurt und Stuttgart sowie beim Lincoln Center Festival in New York aufgeführt. Die Oper Perso e Andromeda (1990; Text nach J. Laforgue) wurde am Teatro alla Scala in Mailand gespielt. Weitere Vokalkompositionen Sciarrinos sind, neben Infinito Nero, u.a. Vanitas (1981; Texte u.a. von Grimmelshausen und Opitz), Lohengrin (1984; Text nach J. Laforgue), Luci mie traditrici (1998; Text nach G. A. Cicognini) und Macbeth (2002; Text nach Shakespeare).

Musikalische Leitung: Anne Champert
Nach Engagements an der Scottish Opera in Glasgow und der Opéra National de Paris arbeitete Champert am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken ist Champert seit 2005 Studienleiterin der Deutschen Oper Berlin. Dort initiierte und begleitete sie u.a. einen Liederabend mit Werken von Aribert Reimann.

Inszenierung: Søren Schuhmacher
Der Regisseur ist seit der Spielzeit 2006/07 Oberspielleiter an der Deutschen Oper Berlin. U. a. inszenierte er an der Komischen Oper Berlin die szenische Erstaufführung Filemon Faltenreich (Wilfried Hiller/Michael Ende) und Turandot am Theater Nordhausen.

Stimme: Ulrike Helzel
Die Mezzosopranistin ist seit 1996 Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin und war hier unter anderem als Cherubino in Le nozze di Figaro, Hänsel in Hänsel und Gretel, Siebel in Gounods Faust, Orfeo in Orfeo ed Euridice und Octavian in Der Rosenkavalier zu sehen.

Die Aufführungen von Infinito Nero, die Gesprächsreihe Dimensionen und die Performance-Reihe Kosmos sind Teil der Veranstaltungsreihe Das Heilige erobert die Stadt an der Deutschen Oper Berlin. Das komplette Programm können Sie unter http://www.deutscheoperberlin.de nachlesen.

Im Anschluss an die Aufführung am 13. Oktober 2007 findet unter dem Titel Pathoskonferenz eine öffentliche Diskussion mit Peter Sloterdijk, Matthias Matussek, Wolfgang Rihm, Christoph Schlingensief und Hans-Jürgen Heinrichs statt. Der Eintritt ist frei. Zählkarten gibt es an der Billetkasse der Deutschen Oper Berlin.

Am Samstag, 20. Oktober 2007, 17.00 Uhr findet eine weitere Podiumsdiskussion statt: Dimensionen. Ohnmacht, Auftrag, Mord: Elektra – Sybille Krämer, Sigrid Weigel und Christoph Menke im Gespräch. Der Eintritt ist frei. Zählkarten gibt es an der Billetkasse der Deutschen Oper Berlin.

Eintritt
Für die Aufführungen am Samstag, 13. Oktober 2007, 13.10 Uhr, und am Dienstag, 16. Oktober 2007, 20.00 Uhr, können Sie über das ZfL ein begrenztes Kontingent von Karten erhalten. Am 13.10. ist der Eintritt frei, am 16. Oktober 2007 kostet eine Karte 5,00 Euro.
Zähl- und Bezahlkarten können nach telefonischer Reservierung vom 8.–12. Oktober 2007 im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Raum 335, 3. Etage, in der Zeit von 10–12 und 14–16 Uhr abgeholt werden (Tel. 030/20192-155/-171).
Weitere Karten erhalten Sie über die Deutsche Oper Berlin oder an der Billettkasse.

Das ZfL dankt der Deutschen Oper Berlin

Märtyrer – Schlüssel zum Verhältnis der Religionen und Kulturen
Allenthalben ist eine Renaissance der Religionen in der Politik und Kultur zu verzeichnen – auch in solchen modernen Gesellschaften, die sich noch vor kurzem als weitgehend säkular betrachtet haben. In diesem Zusammenhang stellt die Wiederkehr des Märtyrermodells eine besonders beunruhigende Komponente dar. Mit den Selbstmordattentätern, die sich als Märtyrer verstehen und auch von ihren Gemeinschaften als solche verehrt werden, ist eine Figur auf den Schauplatz der Geschichte zurückgekehrt, von der das säkularisierte Europa annahm, dass sie längst vergangenen Zeiten angehört. Bei aller Fremdheit der Bilder, die durch die Medien von den internationalen Kampfschauplätzen übermittelt werden, gibt es stets auch Wiedererkennungsmomente: aufgrund der vielen religiösen Symbole, in denen nicht selten Zeichen der christlichen Ikonographie auftauchen, und aufgrund der Chiffren aus Pop- und Massenkultur, derer sich die Propaganda der Selbstmordattentate und die Verehrung ihrer Akteure bedient. Durch diese Bilder wird deutlich, dass hier auch Momente aus der europäischen Tradition im Spiele sind. Sie erinnern an bekannte Mythen und Deutungen aus der Geschichte der kollektiven Verarbeitung von Toten aus Kriegen, Gewaltherrschaft und Katastrophen.
Die Beschäftigung mit der vielfältigen Tradition von Märtyrern in der Kulturgeschichte erhellt nicht nur religiöse Zusammenhänge politischer Gewalt, sondern auch die Verbindungen und die Differenzen zwischen den drei monotheistischen Religionen. Denn die Verehrung von Märtyrern spielt sowohl in christlichen und islamischen als auch in jüdischen Kulturen eine zentrale Rolle. Zugleich schärft der Blick auf die Kontinuität und den Wandel von Märtyrermotiven die Sensibilität für die vergessenen, gleichwohl aber fortwirkenden Prägungen auch der Moderne durch Muster, die der Verknüpfung von Opfer und Verehrung, von Passion und Pathos entstammen.
Die theologische Figur des Märtyrers (von griechisch martyr, 'Zeuge'), dessen Entstehung mit einer semantischen Umdeutung des Zeugen in den Blutzeugen einhergegangen ist, verbindet das Opfer des eigenen Lebens – sei es durch Selbsttötung oder Inkaufnahme des eigenen Todes – mit einem Bekenntnis: sei es zur Wahrheit oder Tugend, zum Glauben oder zu den Religionsgesetzen. Damit wird das physische Sterben zur Manifestation eines metaphysischen Sinns. Als nach einer Geschichte mythischer, antiker und judaischer Vorformen die Passion Christi zum zentralen Bezugspunkt einer emphatischen Märtyrerkultur geworden war, hat diese sich seither mehrheitlich in Formen und Variationen einer Imitation der Passion, der Nachahmung eines heiligen Martyriums, weiter entwickelt: als Genealogie, in der sich Vorbild und Nachahmung ablösen, – und als Kette der Leiden und Leidenschaften. Davon ausgehend hat sich in der Geschichte von Säkularisierung und Modernisierung die Bedeutung des 'Märtyrers' auch in nicht genuin religiöse Felder ausgeweitet: als Figur eines heroischen, geheiligten oder idealisierten Sterbens für einen höheren Wert, für die Interessen oder Ideale einer Gemeinschaft, Nation oder Idee. Die Gestalt des heiligen Kriegers oder Gotteskrieger, sei es in Gestalt des christlichen Kreuzritters, des islamischen Schlachtfeldmärtyrers oder des zeitgenössischen Selbstmordattentäters, hat sich dabei auf den Schauplätzen der Politik als besonders wirksam erwiesen. Dagegen ist die mystische Umformung des Martyriums in eine sublime Form gesteigerter sinnlicher Offenbarung, wie sie in der mittelalterlichen Mystik ausgebildet wurde, zu einer Vorlage ästhetischer Programme – auch und gerade – in der Moderne geworden.
Die Strukturen und Elemente der Märtyrertradition sind somit zum einen geeignet, die verborgenen religionsgeschichtlichen Grundlagen der Moderne sichtbar zu machen; zum anderen erhellen sie grundlegende Motive (nicht nur) der europäischen Kulturgeschichte. Das Deutungsmuster des Märtyrers kommt immer dann zum Einsatz, wenn es darum geht, radikale Umdeutungen vorzunehmen: Opfer in Helden zu verwandeln, Ohnmacht in Macht, Schmerz in Lust, Leiden in Leidenschaft, Askese in mystische Ekstase – und den (realen) Tod in ein (imaginäres) ewiges Leben, Insofern verkörpert der Märtyrer, einem Revenant gleich, die Formensprache der abendländischen Imaginations- und Bildgeschichte seit der Antike. (Sigrid Weigel)