Infinito Nero (Salvatore Sciarrino)
Programm
Veranstaltung der Reihe zum Jahresthema des ZfL: Märtyrer. Schlüssel zum Verhältnis der Religionen und Kulturen
In Salvatore Sciarrinos Infinito Nero (Uraufführung 1998) nehmen die ekstatischen Äußerungen der karmelitischen Mystikerin Maria Maddalena de' Pazzi Gestalt einer Stimme
an. Für seinen Text kompilierte Sciarrino einzelne Sätze und Worte aus
den Protokollen, die Nonnen von den ekstatischen Ausbrüchen der
Karmeliterin anfertigten, die 1607 starb und 1669 heilig gesprochen
wurde. Wie Regieanweisungen verzeichneten die Protokollantinnen Gestik,
vokale Inkarnationskunst – de' Pazzi stattete jede Figur der
Passionsgeschichte, der sie in Visionen teilhaftig wurde, mit
individueller Stimme aus – und Schweigen. De' Pazzi selbst ist in
'ihren' Texten abwesend, stattdessen ist ihnen die 'dritte Person'
eingebrannt.
Sciarrino beschwört den uneinholbaren Augenblick
selbstvergessenen Sprechens: Der in den Protokollen durch Datumsangaben
gesetzte historische Zeitrahmen ist aufgehoben, Herzschlag und Atmung
eines namenlosen Körpers erzeugen – durch Instrumente evoziert – Körperzeit.
Allegorische Eindeutigkeit wird getilgt: Das Blut, in das sich die
Seele gleich zu Beginn verwandelt, wird nicht explizit als Blut Christi
ausgewiesen. Vielmehr vollzieht die Stimme diese Umwandlung in einem
atemlosen Salto Mortale der Sprache 'am eigenen Leibe'. Trotz dieser
übergroßen Nähe zum eingebildeten Leib bleibt die Differenz zu ihm
angstvoll umspielte Schwelle. Sciarrinos Musik folgt so den Amplituden
eines ekstatischen Diskontinuums der Zeit und der Körper.
Wenn
Sciarrino auf Charcot und Bilder von 'Hysterikerinnen' verweist, spielen
mehrere Ebenen kultureller Ekstaseinszenierung ineinander: Im Sinne
einer Figur, die widerständig bleibt und sich durch spontane
Identitätswechsel jeglicher semantischer Fixierung entzieht, kann die
Hysterikerin fast als Prototyp der Musik Sciarrinos gelten, die weniger
'bedeutet' als vielmehr verkörpert. Das mystische Ich in Infinito Nero steht so in atemloser Nähe zu einer Leiblichkeit, die gleichermaßen Schatten, Geliebter oder Realpräsenz des Logos sein könnte.
Komponist: Salvatore Sciarrino
Salvatore
Sciarrino (geb. 1947 in Palermo) erarbeitete sich seinen hochgradig
individuellen Zugriff auf Musik als Autodidakt. Heute lehrt er am
Konservatorium in Florenz. Seine Werke wurden u.a. bei den Schwetzinger
Festspielen, an den Opernhäusern in Frankfurt und Stuttgart sowie beim
Lincoln Center Festival in New York aufgeführt. Die Oper Perso e Andromeda
(1990; Text nach J. Laforgue) wurde am Teatro alla Scala in Mailand
gespielt. Weitere Vokalkompositionen Sciarrinos sind, neben Infinito Nero, u.a. Vanitas (1981; Texte u.a. von Grimmelshausen und Opitz), Lohengrin (1984; Text nach J. Laforgue), Luci mie traditrici (1998; Text nach G. A. Cicognini) und Macbeth (2002; Text nach Shakespeare).
Musikalische Leitung: Anne Champert
Nach
Engagements an der Scottish Opera in Glasgow und der Opéra National de
Paris arbeitete Champert am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken ist
Champert seit 2005 Studienleiterin der Deutschen Oper Berlin. Dort
initiierte und begleitete sie u.a. einen Liederabend mit Werken von
Aribert Reimann.
Inszenierung: Søren Schuhmacher
Der Regisseur
ist seit der Spielzeit 2006/07 Oberspielleiter an der Deutschen Oper
Berlin. U. a. inszenierte er an der Komischen Oper Berlin die szenische
Erstaufführung Filemon Faltenreich (Wilfried Hiller/Michael Ende) und Turandot am Theater Nordhausen.
Stimme: Ulrike Helzel
Die Mezzosopranistin ist seit 1996 Ensemblemitglied der Deutschen Oper Berlin und war hier unter anderem als Cherubino in Le nozze di Figaro, Hänsel in Hänsel und Gretel, Siebel in Gounods Faust, Orfeo in Orfeo ed Euridice und Octavian in Der Rosenkavalier zu sehen.
Die Aufführungen von Infinito Nero, die Gesprächsreihe Dimensionen und die Performance-Reihe Kosmos sind Teil der Veranstaltungsreihe Das Heilige erobert die Stadt an der Deutschen Oper Berlin. Das komplette Programm können Sie unter http://www.deutscheoperberlin.de nachlesen.
Im Anschluss an die Aufführung am 13. Oktober 2007 findet unter dem Titel Pathoskonferenz
eine öffentliche Diskussion mit Peter Sloterdijk, Matthias Matussek,
Wolfgang Rihm, Christoph Schlingensief und Hans-Jürgen Heinrichs statt.
Der Eintritt ist frei. Zählkarten gibt es an der Billetkasse der Deutschen Oper Berlin.
Am Samstag, 20. Oktober 2007, 17.00 Uhr findet eine weitere Podiumsdiskussion statt: Dimensionen. Ohnmacht, Auftrag, Mord: Elektra – Sybille Krämer, Sigrid Weigel und Christoph Menke im Gespräch. Der Eintritt ist frei. Zählkarten gibt es an der Billetkasse der Deutschen Oper Berlin.
Eintritt
Für
die Aufführungen am Samstag, 13. Oktober 2007, 13.10 Uhr, und am
Dienstag, 16. Oktober 2007, 20.00 Uhr, können Sie über das ZfL ein
begrenztes Kontingent von Karten erhalten. Am 13.10. ist der Eintritt
frei, am 16. Oktober 2007 kostet eine Karte 5,00 Euro.
Zähl- und
Bezahlkarten können nach telefonischer Reservierung vom 8.–12. Oktober
2007 im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Schützenstr.
18, 10117 Berlin, Raum 335, 3. Etage, in der Zeit von 10–12 und 14–16
Uhr abgeholt werden (Tel. 030/20192-155/-171).
Weitere Karten erhalten Sie über die Deutsche Oper Berlin oder an der Billettkasse.
Das ZfL dankt der Deutschen Oper Berlin
Märtyrer – Schlüssel zum Verhältnis der Religionen und Kulturen
Allenthalben
ist eine Renaissance der Religionen in der Politik und Kultur zu
verzeichnen – auch in solchen modernen Gesellschaften, die sich noch vor
kurzem als weitgehend säkular betrachtet haben. In diesem Zusammenhang
stellt die Wiederkehr des Märtyrermodells eine besonders beunruhigende
Komponente dar. Mit den Selbstmordattentätern, die sich als Märtyrer
verstehen und auch von ihren Gemeinschaften als solche verehrt werden,
ist eine Figur auf den Schauplatz der Geschichte zurückgekehrt, von der
das säkularisierte Europa annahm, dass sie längst vergangenen Zeiten
angehört. Bei aller Fremdheit der Bilder, die durch die Medien von den
internationalen Kampfschauplätzen übermittelt werden, gibt es stets auch
Wiedererkennungsmomente: aufgrund der vielen religiösen Symbole, in
denen nicht selten Zeichen der christlichen Ikonographie auftauchen, und
aufgrund der Chiffren aus Pop- und Massenkultur, derer sich die
Propaganda der Selbstmordattentate und die Verehrung ihrer Akteure
bedient. Durch diese Bilder wird deutlich, dass hier auch Momente aus
der europäischen Tradition im Spiele sind. Sie erinnern an bekannte
Mythen und Deutungen aus der Geschichte der kollektiven Verarbeitung von
Toten aus Kriegen, Gewaltherrschaft und Katastrophen.
Die
Beschäftigung mit der vielfältigen Tradition von Märtyrern in der
Kulturgeschichte erhellt nicht nur religiöse Zusammenhänge politischer
Gewalt, sondern auch die Verbindungen und die Differenzen
zwischen den drei monotheistischen Religionen. Denn die Verehrung von
Märtyrern spielt sowohl in christlichen und islamischen als auch in
jüdischen Kulturen eine zentrale Rolle. Zugleich schärft der Blick auf
die Kontinuität und den Wandel von Märtyrermotiven die Sensibilität für
die vergessenen, gleichwohl aber fortwirkenden Prägungen auch der
Moderne durch Muster, die der Verknüpfung von Opfer und Verehrung, von
Passion und Pathos entstammen.
Die theologische Figur des Märtyrers (von griechisch martyr,
'Zeuge'), dessen Entstehung mit einer semantischen Umdeutung des Zeugen
in den Blutzeugen einhergegangen ist, verbindet das Opfer des eigenen
Lebens – sei es durch Selbsttötung oder Inkaufnahme des eigenen Todes –
mit einem Bekenntnis: sei es zur Wahrheit oder Tugend, zum Glauben oder
zu den Religionsgesetzen. Damit wird das physische Sterben zur
Manifestation eines metaphysischen Sinns. Als nach einer Geschichte
mythischer, antiker und judaischer Vorformen die Passion Christi zum
zentralen Bezugspunkt einer emphatischen Märtyrerkultur geworden war,
hat diese sich seither mehrheitlich in Formen und Variationen einer
Imitation der Passion, der Nachahmung eines heiligen Martyriums, weiter
entwickelt: als Genealogie, in der sich Vorbild und Nachahmung ablösen, –
und als Kette der Leiden und Leidenschaften. Davon ausgehend hat sich
in der Geschichte von Säkularisierung und Modernisierung die Bedeutung
des 'Märtyrers' auch in nicht genuin religiöse Felder ausgeweitet: als
Figur eines heroischen, geheiligten oder idealisierten Sterbens für
einen höheren Wert, für die Interessen oder Ideale einer Gemeinschaft,
Nation oder Idee. Die Gestalt des heiligen Kriegers oder Gotteskrieger,
sei es in Gestalt des christlichen Kreuzritters, des islamischen
Schlachtfeldmärtyrers oder des zeitgenössischen Selbstmordattentäters,
hat sich dabei auf den Schauplätzen der Politik als besonders wirksam
erwiesen. Dagegen ist die mystische Umformung des Martyriums in eine
sublime Form gesteigerter sinnlicher Offenbarung, wie sie in der
mittelalterlichen Mystik ausgebildet wurde, zu einer Vorlage
ästhetischer Programme – auch und gerade – in der Moderne geworden.
Die
Strukturen und Elemente der Märtyrertradition sind somit zum einen
geeignet, die verborgenen religionsgeschichtlichen Grundlagen der
Moderne sichtbar zu machen; zum anderen erhellen sie grundlegende Motive
(nicht nur) der europäischen Kulturgeschichte. Das Deutungsmuster des
Märtyrers kommt immer dann zum Einsatz, wenn es darum geht, radikale
Umdeutungen vorzunehmen: Opfer in Helden zu verwandeln, Ohnmacht in
Macht, Schmerz in Lust, Leiden in Leidenschaft, Askese in mystische
Ekstase – und den (realen) Tod in ein (imaginäres) ewiges Leben,
Insofern verkörpert der Märtyrer, einem Revenant gleich, die
Formensprache der abendländischen Imaginations- und Bildgeschichte seit
der Antike. (Sigrid Weigel)