ZfL INFO 14/2021: Neue Texte in der Anthologie »Nachbarschaften«
NEUE TEXTE IN DER ANTHOLOGIE »NACHBARSCHAFTEN«
- Andreas Lipowsky über Phantommauern im Mariannenkiez (08.03.2021)
- Uwe Kolbe über erste Umzüge um und durch den Helmholtzkiez (26.02.2021)
- Stefan Willer über Nachbarschaften in Libidissi (12.02.2021)
- Dirk Kurbjuweit über unheimliche Nachbarn in Lichterfelde West (12.02.2021)
Andreas Lipowsky: WALKING TOWARDS THE PHANTOM WALL
Deboarding the U1 underground line at Kottbusser Tor on a Saturday night, I step onto an above-ground platform towering above a roundabout. To the north, through the residential complex hovering over Adalbertstraße, is the center of eastern Kreuzberg – dubbed SO36 after its former postal code. It is also known as Little Istanbul, a tongue-in-cheek reference to its Turkish-German community. It is an area of roughed-up good vibes, populated with inhabitants of all denominations who are fiercely loyal to their Kiez and the independently-minded demographic it attracts. I walk down Adalbertstraße accompanied by a couple of hundred people en route to somewhere close-by. Close-by and yet surprisingly difficult to reach, since everyone is stepping on everyone else’s feet.
http://zfl-nachbarschaften.org/2020/07/21/walking-towards-the-phantom-wall/
Uwe Kolbe: ERSTE UMZÜGE
Der erste selbständige Umzug des Lebens brachte den jungen K. von der Stolpischen Straße in die Bergener Straße. Mit Aplomb und Türenschlagen und doch einer gewissen Rest-Unterstützung der Eltern. Der Durchgang zu dem Hinterhaus und der Wohnung im Dachgeschoss – schmaler Flur, Küche, Innentoilette, ein Zimmer – lag zur Bornholmer Straße. Der ausladende Nussbaum vorm Haus steht fünfundvierzig Jahre später noch da. K.s erster Sohn hatte damals gerade das Licht der Welt erblickt. Die Windeln trockneten in der Küche, wo K. saß, die Füße in einer großen, schwarz angemalten Kiste, auf der die Schreibmaschine stand.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/02/26/erste-umzuege/
Stefan Willer: NACHBARSCHAFTEN IN LIBIDISSI
Für seinen 1998 erschienenen Debütroman Libidissi hat Georg Klein einen merkwürdigen Ort erfunden: die titelgebende Stadt Libidissi. Allerdings kann man bis zum Ende des Romans nur vermuten, dass es sich bei dem Titelwort um einen Ortsnamen handelt. Zwar wird die Stadt fortwährend im Text erwähnt; man kann sogar sagen, dass sie die eigentliche Hauptfigur des Romans ist. Aber sie wird immer nur „die Stadt“ genannt, bis es im letzten Kapitel heißt, eine religiöse Gruppierung habe „den Flughafen von Libidissi“ angegriffen. Dieses Aussparen und Aufschieben des Namens ist kennzeichnend für die Prosa Georg Kleins, eines der bemerkenswertesten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. In seinen Romanen und Erzählungen erfindet er fantastische, oft auch fantasmatische Orte – Städte, Bauten, Außen- und Innenräume –, bevölkert sie mit eigenartigen Figuren und berichtet von all dem in einer eigenwilligen und unverwechselbaren Sprache.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/02/12/nachbarschaften-in-libidissi/
Dirk Kurbjuweit: DER NACHBAR IN MIR
Obwohl Herr Tiberius dreimal gestorben ist, werde ich ihn nicht los. Er war mein Nachbar, jetzt ist er mein Begleiter. Er wohnte unter mir, jetzt lebt er in mir. Er war mein Feind, inzwischen kommen wir leidlich miteinander aus.
Im Jahr 2002 kaufte ich mit meiner damaligen Frau eine Wohnung im Erdgeschoss einer Villa in Lichterfelde West. Wir hatten zwei kleine Kinder, wir wollten einen Garten haben. Vor dem Kauf trafen wir die anderen Bewohner des Hauses, außer dem Mieter im Souterrain.
Hör auf, sagt Herr Tiberius. Willst du das wirklich noch einmal erzählen? Du hast es doch schon tausendmal erzählt.
Lass mich, sage ich.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/02/12/der-nachbar-in-mir/
Die Online-Anthologie des Projekts Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur widmet sich den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen nachbarschaftlicher Beziehungen und Zusammenhänge. Mit Blick auf den Berliner Stadtraum und auf aktuelle soziale Fragen, aber zugleich offen für ein weiteres Verständnis von Nachbarschaften versammelt die Anthologie Beiträge aus Literatur und Wissenschaft und verknüpft sie hypertextuell. Die Leserinnen und Leser können individuell entscheiden, ob sie ihre Lektüre zum Beispiel mit einer bestimmten Autorin oder an einem bestimmten Ort beginnen möchten. Über Verlinkungen lassen sich vielfältige Verbindungen zwischen den Texten und lesend neue Nachbarschaften entdecken. Die Berliner Kieze sind gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt aller Texte. Die Sammlung wird laufend ergänzt.
Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur