Ausdrucksgebärden zwischen Evolutionstheorie und Kulturgeschichte
Ausdrucksgebärden beanspruchen in der Emotions- und Hirnforschung eine zentrale Stelle als Indikatoren für die Erforschung mentaler Phänomene – allerdings zumeist historisch unreflektiert. Das Projekt widmete sich deshalb den wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen des Ausdrucksbegriffs. Ausdruck wurde zwischen 1700 und 1850 schrittweise zu jenem anthropologisch, künstlerisch und naturwissenschaftlich besetzten Begriffsfeld entfaltet, dessen Höhepunkt im späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht wurde. Ausdrucksgebärden sind seither ein epistemischer Schauplatz, auf dem sich physiologische/biologische und kulturwissenschaftliche/künstlerische Deutungsmuster berühren, überlagern und miteinander konkurrieren. Einerseits tritt Ausdruck als produktionsästhetische Kategorie der Gestaltung, (Trans-)Formation und Sublimierung künstlerischer und wissenschaftlicher Artefakte und Versuchsanordnungen auf, andererseits aber auch als Effekt und Verwirklichung der bewussten und unbewussten Absichten und Affekte von Individuen.
Gegenstand des Projekts waren Konzepte des Ausdrucks und der Ausdrucksgebärden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert an der Schnittstelle zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Eine besondere Aufmerksamkeit galt dabei dem Zusammenhang von Indikatoren/Zeichen, den jeweiligen Deutungsparametern und deren Ort in der Theoriebildung sowie der Spannung zwischen universalistischen Deutungsansätzen und kulturspezifischen Momenten des Ausdrucks, wie sie z.B. afrikanischen Musikperformances zugrunde liegen. Ausgangspunkt war dabei zunächst eine Aufarbeitung der begriffs- und wissensgeschichtlichen Voraussetzungen des Nachdenkens über Ausdrucksphänomene seit dem 18. Jahrhundert. Hierzu fand im Januar 2009 die interdisziplinäre Tagung »Figuren des Ausdrucks. Formation einer Wissenskategorie zwischen 1700 und 1850« statt, deren Ergebnisse in erweiterter Form 2012 erscheinen.
Mit Bezug auf die zentrale Rolle, die Aby Warburg und andere Vertreter der ersten Kulturwissenschaft um 1900 für das Forschungsprofil des ZfL spielen, richtete das Projekt in einem zweiten Schritt seine Aufmerksamkeit auf die lange zu wenig beachtete Rolle naturwissenschaftlicher Theoreme für die Konzeptualisierung von Ausdruck, um die eigentümliche Mobilität, Wandlungsfähigkeit und Geschichtlichkeit von Ausdrucksphänomenen herauszuarbeiten. Das Interesse galt dabei dem Ausdruck als einem Grenzphänomen, das zwischen Körperlichkeit und Bewegung, zwischen Sprachlichkeit und Kommunikation angesiedelt ist. Diesen »Rändern und Interferenzen des Ausdrucks« widmete sich eine zweite Tagung Anfang 2010, bei der verschiedene Schauplätze in Architektur, Theater, Tanz, Musik, Anthropologie, Sprach- und Kognitionsforschung untersucht wurden, die für methodologische Fragen ausdruckstheoretischer Überlegungen im 20. Jahrhundert relevant gewesen sind. Eine entsprechende Publikation erschien 2013. Beide Sammelbände enthalten auch Beiträge von Kollegen aus anderen Projekten des Forschungsschwerpunkts II, »Kulturgeschichte des Wissens« (Jörg Thomas Richter, Armin Schäfer, Jan Söffner, Margarete Vöhringer).
Neben der vielfältigen auswärtigen Vortragstätigkeit der Mitarbeiter (u.a. auf den Kongressen der International Society of Gesture Studies, Frankfurt/O., den German-American Frontiers of the Humanities in Philadelphia und der International Society for Conceptual History, Moskau) ergaben sich aus der Projektarbeit Kooperationen mit der Kunst- und Musikhochschule Zürich im Rahmen der Reihe »Atelier Wissenskünste« (8/2008–2/2010), die Künstler und Wissenschaftler zu interdisziplinären Gesprächen zusammenführte, sowie die (Mit-)Organisation verschiedener Konferenzen und Tagungen am ZfL.
Publikationen
Musik als Ausdrucksgebärde
Zur kultur- und wissensgeschichtlichen Erforschung der musikalischen Körperkommunikation
Kinästhetik und Kommunikation
Ränder und Interferenzen des Ausdrucks
Figuren des Ausdrucks
Formation einer Wissenskategorie zwischen 1700 und 1850
Tobias Robert Klein
- Kurvendiskussion: Ausdruck, Dynamik und musikalische Bewegung nach 1900, in: Trajekte 17, 2008, 12–16
- Weinen Machen. Über drei Methoden sich einer Sefwi-Trauerklage (Südghana) zu nähern, in: Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin – Bericht über das Forschungsjahr 2009, Berlin: Geisteswissenschaftliche Zentren 2010, 53–58
- Amsterdam – Gustav Mahler – Das Lied von der Erde; Hiplife – VIP – Ahomka wo mu, in: Dirk Naguschewski, Stefan Willer (Hg.): Also singen wir. 60 Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik, Berlin: Trajekte Extra 2010
- Fondling breasts and playing guitar: Textual and contextual expressions of a socio-musical conflict in Accra, in: Tobias Janz, Jan-Phillip-Sprick (Hg.): Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie – Sonderband Musiktheorie und Musikwissenschaft, 2010 Online-Edition
- »I remember only the grandiose moment when they all started to sing« – Schönbergs Survivor und Nonos Ricorda als musikalische Manifestation der Erinnerung, in: Falko Schmieder (Hg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen, München: Fink 2011, 77–91
- »Musik in Passagen«: Walter Benjamin und die Musik der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, in: Tobias Robert Klein (Hg.): Klang und Musik bei Walter Benjamin, München: Fink 2013, 117–129
Erik Porath
- Zwischen Lebenden und Toten, zwischen Assoziation und Vergessen: Das Subjekt und sein Name, in: Tatjana Petzer u.a. (Hg.): Namen. Benennung, Verehrung, Wirkung. Positionen der europäischen Moderne, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2008, 243–259
- Begriffsgeschichte des Mediums oder Mediengeschichte von Begriffen? Methodologische Überlegungen, in: Ernst Müller, Falko Schmieder (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin, New York: de Gruyter 2008, 253–272
- Vom Reflexbogen zum psychischen Apparat: Neurologie und Psychoanalyse um 1900, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte Nr. 32/1, 2009, 53–69
- Situation and Motion. The Art of Expression in Fiedler and Freud, in: Sabine Flach, Jan Söffner (Hg.): Habitus in Habitat I – Emotion and Motion, Bern: Peter Lang 2010, 97–109
- Geist der neuen Welt – Ray Barretto – Summertime, in: Dirk Naguschewski, Stefan Willer (Hg.): Also singen wir. 60 Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik, Berlin: Trajekte Extra 2010
- Überlebende und Überlebte. Zwischen Unsterblichkeitswunsch und Vergänglichkeit bei Freud und Canetti, in: Falko Schmieder (Hg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen, München: Fink 2011
- Hg.: Ränder der Enzyklopädie, darin: Jazz, Berlin: Merve Verlag 2012, 45–62 (mit Christine Blättler)
- Assoziation und Ambiguierung, Symptom und Revenant. Zur Medientheorie der Freudschen Psychoanalyse, in: Gisela Fehrmann, Ludwig Jäger, Meike Adam (Hg.): Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme, München: Fink 2012, 73–86
Veranstaltungen
Atem als Ausdrucksgebärde
Musikklub Mehrspur, Waldmannstrasse 12, 8001 Zürich
Kinästhetik und Kommunikation: Ränder und Interferenzen des Ausdrucks
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et.
Figuren des Ausdrucks. Formation einer Wissenskategorie zwischen 1700 und 1850
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308