Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Hg.)

Erbe, Erbschaft, Vererbung

Trajekte 14
Berlin 2007, 52 Seiten
ISSN: 1616-3036
  • Jahr der Geisteswissenschaften
    Jahresthema des ZfL: Märtyrer
  • Die Aura des Nutzens. Standpunkt zur Debatte über die zwei Kulturen (Sigrid Weigel)
  • Erbe, Erbschaft, Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur (Sigrid Weigel)
  • Aus dem Archiv
    Zwischen Leben und Tod. Die Verschollenen und ihre Hinterbliebenen im Spätmittelalter (Christina Deutsch)
  • Bildessay
    Bildpolitik des Erbens. Die Effigies im englischen Funeralzeremoniell (Kristin Marek)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Logiken des Erbens und Vererbens (Ulrike Vedder)
  • Die Topographie der Vererbung. Epigenetische Landschaften bei Waddington und Piper (Ohad Parnes)
  • Demographischer Wandel. Kulturwissenschaftliche Perspektiven zu einer gegenwärtigen Debatte (Ohad Parnes/Ulrike Vedder/Sigrid Weigel/Stefan Willer)
  • Korrespondenzen
    Generationengerechtigkeit (Martin Kohli)
  • Erbrecht und Demographiedebatte. Rückkoppelungen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen (Peter Breitschmid)
  • Die Lebenszeit (Brüder Grimm)
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Topographie pluraler Kulturen Europas in Rücksicht auf die ›Verschiebung Europas nach Osten‹ (Andreas Pflitsch)
  • Ankündigungen
    Humboldt-Forschungspreis für Georges Didi-Huberman
  • Namen. Benennung, Verehrung, Wirkung (1850-1930)
  • Konjektur und Krux. Zur Methodik der Philologie
    »Allein die Träume sind vollkommen wirklich« (Baudelaire). Alexander von Zemlinsky und die Moderne

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Den Geisteswissenschaften wird gern die Zuständigkeit für die Tradition, das kulturelle Erbe und das kulturelle Gedächtnis zugeschrieben. So gesehen trägt das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung zu Recht den Titel eines Geisteswissenschaftlichen Zentrums, denn seit Jahren gehört das Thema des Erbes und des Erbens zu einem seiner zentralen Forschungsschwerpunkte. Allerdings geht es dabei nicht um das kulturelle Erbe im Sinne eines Katalogs oder Kanons bewahrenswerter Kulturgüter. Für solche Art konservatorischer Nachlasspflege gibt es Bibliotheken und Museen, die sich jeweils bestimmter Sparten oder Ausschnitte des kulturellen Erbes annehmen, oder das Unesco-Programm des Weltkulturerbes mit dem ehrgeizigen Ziel, das Erbe der Menschheit zu bestimmen, zu erhalten und an die künftigen Generationen zu übermitteln.
Dagegen geht es bei einer Erforschung des Erbe(n)s um die – sehr unterschiedlichen – Konzepte und Gesetze, Praktiken und Logiken, Formen und Medien, mit denen Dinge und Wissen, Status und Macht, mit denen biologische und ökonomische Anlagen, technisches und symbolisches Vermögen zwischen den Generationen übertragen werden, um auf diese Weise den Transfer zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Künftigem zu sichern. Im Unterschied zur Tradition bringt der Begriff des Erbes – als eine spezifische Form der Traditionsbildung – eine genealogische Perspektive ins Spiel: Übertragungen zwischen den Generationen, die in der Geschichte, in einer Kultur oder Gemeinschaft aufeinander folgen. Gefragt wird dabei nicht danach, was geerbt und vererbt wird, sondern wie sich das Erbe überhaupt konstituiert, d.h. welche Bilder und Gewohnheiten, Interessen und Vorstellungen die Art und Weise, wie ge- und vererbt wird, prägen.
Vererbung und Erbschaft sind grundlegende anthropologische Praktiken, mit denen die Menschen sich gleichermaßen als Natur- und Kulturwesen begreifen können, als Individuen, die in der menschlichen Reproduktionskette, in der Gemeinschaft und in der Geschichte leben. Das Erbe betrifft gleichsam jene Tradition, die durch die Körper und Leben der Menschen hindurchgeht. Es berührt die Art und Weise, wie die Beziehung zwischen den Toten, den heute und den künftig Lebenden geregelt wird, es betrifft die Memoria ebenso wie die Übernahme von Schuld und Schulden. Dennoch hat das Erben nicht den Charakter einer anthropologischen Konstante, denn seine Regelungen stellen sich in verschiedenen Kulturen und historischen Epochen höchst unterschiedlich dar. Dabei schließen die Medien und Wege des Transfers materielle und symbolische, natürliche und artifizielle, physische und sprachliche Träger ein. Das Zusammenspiel biologischer und symbolischer, juristischer und ökonomischer, religiöser und sozialer Elemente von Übertragungen in seinen historischen Wandlungen und kulturellen Differenzen zu untersuchen, bedeutet insofern humanwissenschaftliche Grundlagenforschung par excellence, die per se interdisziplinär sein muss.

Zum Themenschwerpunkt
Die meisten Beiträge in diesem Heft entstammen Projekten, Kooperationen und Tagungen der Forschergruppe Genealogie am ZfL. Im Anschluss an ein Forschungsprojekt zum Konzept der Generation und seiner Wissenschafts- und Kulturgeschichte (vor allem seit dem 18. Jahrhundert) wird derzeit – in Kooperation mit Bernhard Jussen (Bielefeld), dem soeben der Leibniz-Preis verliehen wurde – ein Projekt zum Thema Erbe, Erbschaft, Vererbung zum Abschluss gebracht. Dabei geht es (1) um eine historische Untersuchungsanordnung, die Zäsuren zwischen Vormoderne und Moderne befragt, sowohl in der Relation von Verwandtschaft und Erbe als auch im Verhältnis zwischen Toten und Lebenden, und (2) um eine epistemologische Perspektive, die Schnittstellen der Vererbung zwischen Natur- und Kulturgesetzen untersucht, vor allem im Hinblick auf die Geschichte der Epigenetik. Im Lichte dieser Forschungen zur Geschichtlichkeit des Erbes als einer intergenerationellen, kulturell sehr unterschiedlich organisierten Praxis stellen sich manche Phänomene, die gegenwärtig im Diskurs über den demographischen Wandel, über Generationengerechtigkeit und Generationenvertrag verhandelt werden, anders und weitaus komplizierter dar, als die in den Nachrichten verbreiteten Statistiken vermuten lassen. Dies ist das Motiv dafür, um – in Zusammenarbeit mit Soziologie und Rechtswissenschaft – ein Anschlussprojekt zum Thema der Generationen in der Erbengesellschaft zu konzipieren. Dieses Vorhaben hat zum Ziel, die historisch informierte kulturwissenschaftliche Expertise der Generationen- und Erbeforschung für eine qualitative Analyse der gegenwärtigen Probleme zu nutzen.

„Immer mehr Alte, immer weniger Junge“, so lautet die Formel, auf die derzeit die Probleme des ‚demographischen Wandels’ gebracht werden. Mit der Folge, dass viele Reformvorhaben sich als reine Zahlenoperationen darstellen, die Zukunft also vor allem errechnet wird. Die meisten Vorschläge und Maßnahmen, mit denen dem Übel abgeholfen werden soll, legen eine einfache und eindeutige Korrelation zwischen der jeweiligen Gestaltung von Lebensläufen/Lebensformen und dem Faktor ökonomischer Anreiz bzw. steuerliche Belastung zugrunde – obwohl jeder weiß, dass Kinder nicht aus Kindergeld gemacht werden. Wenn aber Politik im Klartext immer ausschließlicher Haushaltspolitik ist, dann deutet das u.a. auf den prekären Mangel eines gesellschaftsanalytischen Vermögens hin, das die einzelnen Daten im Zusammenhang weitreichenderer kultureller Umbrüche beleuchten würde: im Horizont sich wandelnder kultureller und sozialer Praktiken, Arbeits- und Lebensformen, Mentalitäten und Präferenzen, aber auch veränderter Bilder und Begriffe, mit denen die Beziehungen der Generationen und Geschlechter gefasst und gestaltet werden.
Die öffentliche Debatte signalisiert einen deutlichen Mangel kulturwissenschaftlicher Expertisen der Gegenwart. Während viele Soziologen sich mit ihren überwiegend empirischen Methoden seit langem um eine zeitgemäße Analyse veränderter Lebensverläufe, Altersbegriffe, Familien- und Generationsverhältnisse bemühen, stehen die Kultur- und Geisteswissenschaften bislang zumeist mit leeren Händen da, wenn es um drängende Fragen von Gegenwart und Zukunft geht. Dabei wird niemand behaupten wollen, dass Generationen und Familienbande, dass Alter und Geschlecht nicht in den Themenkreis der Humanwissenschaften gehören. Insofern müssen diese sich die Frage vorlegen, ob sich nicht über das Interesse an Differenz und Genderfragen, über subtilste dekonstruktive Lektüren und den Import postkolonialer Theorien ihr Blick für die Gegenwart getrübt hat.
Irgendwo auf der Zeitstrecke zwischen den 80er Jahren und heute ist, so scheint es, den Geisteswissenschaften ihr gesellschaftskritischer Anspruch (nachdem das Wort zuvor bis zur Unkenntlichkeit überstrapaziert worden war) abhanden gekommen. Insofern ist es gut, dass im Jahr der Geisteswissenschaften endlich auch selbstverständlicher über den Nutzen geisteswissenschaftlicher Forschung diskutiert wird. Dabei ist zu hoffen, dass auch die – erstaunlich zählebige - Formel vom vermeintlichen Gegensatz der ‚zwei Kulturen’ überwunden wird: hier Eigenwert der Geisteswissenschaften, dort Nutzen der Naturwissenschaften. Denn die zwei Wissenskulturen unterscheiden sich zwar durch vieles – vor allem durch ihre Sprache, durch ihre Erkenntnis- und Betrachtungsweisen, ihre Methoden und Instrumentarien –, nicht aber durch ihre Nähe oder Ferne zum Leben, Agieren und Denken der Menschen. Einen wirklichen Nutzen von der Wissenschaft wird die Gesellschaft nur haben, wenn die Differenzen der Wissenskulturen in eine gemeinsame Arbeit an der adäquaten Analyse anstehender Probleme münden und an qualitativen, sozial und kulturell verträglichen Antworten arbeiten.

Das Jahr der Geisteswissenschaften
Im Jahr der Geisteswissenschaften geht es nicht nur darum, bei Politik und Öffentlichkeit für die Relevanz philologisch, historisch, theoretisch und begrifflich reflektierten Wissens zu werben; es geht auch darum, dass die Humanwissenschaften sich auf ihre Verantwortung für die Gemeinschaft besinnen, dass sie aus der Defensive herauskommen, sich einmischen und ihre Kompetenzen mit der tatsächlichen wissenschaftlich-technischen Entwicklung abgleichen. Geisteswissenschaft heute kann nur Humanwissenschaft im digitalen, biomedizinischen, globalen Zeitalter sein – was keineswegs heißt, die Sorge um die Tradition zu vergessen. Im Gegenteil: Denn erst im Gegenlicht der Kultur- und Wissensgeschichte werden die Konturen gegenwärtiger Phänomene und Begriffe scharf.
In diesem Sinne versteht das ZfL nicht nur seine Forschungen zum Erbe(n), sondern auch das Jahresthema für 2007: Märtyrer. Hier geht es darum, die Wiederkehr der Märtyrer in die politische Arena – vor allem in Gestalt der Selbstmordattentäter – auf der Grundlage der historischen Vielgestaltigkeit von Märtyrer- und Opfertraditionen in verschiedenen (Religions-)Kulturen zu studieren. Dasselbe gilt für ein soeben begonnenes Forschungsvorhaben zur Topographie pluraler Kulturen Europas in Rücksicht auf die 'Verschiebung Europas nach Osten', in dem es darum geht, die aus dem gegenwärtig herrschenden Europa-Konzept bisher weitgehend ausgeblendeten östlichen Kulturen in ihrer religionshistorischen, sprachlichen, kulturellen und politischen Vielfalt zu untersuchen.

Nachrichten aus dem ZfL
Das ZfL ist umgezogen, und zwar für eine dreijährige Übergangszeit, weil das Gebäude in der Jägerstr. 10/11 kurzfristig an den Bund verkauft worden ist. Insofern die Vorstellung des von Wolfgang Kreher und Ulrike Vedder herausgegebenen Buches Von der Jägerstraße zum Gendarmenmarkt. Eine Kulturgeschichte aus der Berliner Friedrichstadt (Berlin 2007) zufällig mit dem Tag des Umzugs von der Jäger- in die Schützenstraße zusammenfiel, ist der Band zur Kulturgeschichte des städtischen Umfelds unbeabsichtigt zu einer Art Gedenkband geworden. Transit-Ort für das ZfL ist die dritte Etage des Mossezentrums in der Schützenstr. 18; die Bibliothek befindet sich im zweiten Stock. In den dort neu entstandenen Trajekte-Tagungsraum laden wir alle Kollegen und Freunde zu unseren Mittwochsvorträgen, Symposien und Tagungen ein, die sie am Ende des Heftes in Kalender und Ankündigungen finden. Nur für die Festveranstaltung anlässlich der Verleihung des Humboldt Forschungspreises an Georges Didi-Huberman am 20. Juni möchten wir Sie in den Einsteinsaal der BBAW bitten. Didi-Huberman ist – nach Stéphane Mosès – das zweite der Honorary Members des ZfL, dem dieser Preis für einen Forschungsaufenthalt am ZfL verliehen wird.

Der Verein der Freunde und Förderer des ZfL, der sich im letzten Jahr gebildet hat – Gründungmitglieder sind neben Aris Fioretos (Vorsitzender): Verena Auffermann, Karlheinz Barck, Bernd Kauffmann , Sabine Knapp-Lohmann, Wolfgang Kreher, Beatrice Kühne, Stefan Münker, Bernd Stiegler, Wolfgang Thierse und Hanns Zischler –, widmet sich Begegnungen zwischen Kunst und Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Er hat seine Aktivitäten im Januar 2007 mit einer von Aris Fioretos und Hanns Zischler gestalteten Literarischen Soirée begonnen, für die sie auch Reiner Speck gewinnen konnten, den renommierten Urologen und Vorsitzenden der Marcel-Proust-Gesellschaft.

Und nach Jahren der Debatte, der Evaluierung, unterschiedlichster Vorschläge etc. zur Weiterförderung des ZfL (über das Ende der derzeitigen Laufzeit und Förderform im Dezember 2007 hinaus) hat das BMBF nun erfreulicherweise zugesagt, eine Weiterförderung in Form einer bilateralen Lösung zu realisieren. Auf der Grundlage der Empfehlung des Wissenschaftsrates vom Januar 2006 und der vom Land Berlin zugesagten Fortführung der bisherigen Grundförderung wird das Forschungsprogramm des ZfL also nunmehr vom Bund durch eine mittelfristige Projektförderung ermöglicht werden. Man darf also auch künftig mit dem Engagement und den Aktivitäten des ZfL rechnen.

Trajekte-Abonnement
Und schließlich möchte ich noch einmal daran erinnern, dass der Vertrieb der Trajekte auf Abonnementvertrieb und den Verkauf über den Buchhandel umgestellt wird. Wenn Sie die Trajekte weiterhin erhalten wollen, vergessen Sie bitte nicht, uns Ihren Bestellwunsch zu schicken.

Sigrid Weigel