Erbe – Erbschaft – Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel
Der Begriff des Erbes zeichnet sich dadurch aus, dass er – im Unterschied zu Konzepten wie Geschichte, Tradition oder Evolution – die verschiedenen Dimensionen von Überlieferung verbindet, indem er deren Zusammenspiel in der Organisation von Kontinuität und Veränderung und am Übergang von Natur und Kultur reguliert. Im Umgang mit dem Erbe regeln die Lebenden sowohl ihren Austausch mit den Verstorbenen als auch ihr Verhältnis zu den noch nicht Geborenen. Die modernen, gegenwärtig gültigen Erbekonzepte entspringen den weitreichenden Umbrüchen, die um 1800 anzusiedeln sind: Naturalisierung der Vererbung, Kodifizierung des Erbrechts, Politisierung und Nationalisierung des kulturellen Erbes, bürgerliche Familialisierung und Individualisierung, Verzeitlichung und Futurisierung. Das Projekt hat die Vor- und Nachgeschichte dieser Umbrüche untersucht.
Um die Genese der Engführung zwischen Familien- und Erbschaftsvorstellungen zu rekonstruieren, wurde in einem Teilprojekt danach gefragt, wie sich im Mittelalter das Verhältnis von Verwandtschaft, Jenseitsökonomie und Überlieferung gestaltet hat. Aufgrund der Verschmelzung von Familie und Erben analysierte ein weiteres Teilprojekt die Wechselwirkung von Erbrecht und Familienkonzepten in vormodernen und modernen Gesellschaften. Das erforderte eine vergleichende Untersuchung in diachroner Perspektive zu der Frage, welche Bedeutung Verwandtschaftsbegriffe in der Geschichte des Erbrechts haben, und umgekehrt, in Form welcher Regelungen (z.B. Adoption) das Erbrecht sich in der Familiengeschichte niederschlägt. Da die Literatur als ein Schauplatz für die Konflikte mit dem (Ver-)Erben und die Sorge darum betrachtet werden kann, las ein drittes Teilprojekt die Literatur des 19. Jahrhunderts daraufhin, wie in ihr die genannten Umbrüche in den Erbgesetzen und das veränderte Verhältnis in der Beziehung zwischen Vorfahren und Nachkommen zum Ausdruck kommen. Um in einem weiteren Teilprojekt die Vererbungstheorien der Moderne auf die Verhandlungen zwischen Kultur und Natur hin zu untersuchen, wurde danach gefragt, wo und in welcher Weise kulturelle Aspekte in genetischen Modellen zum Zuge kommen. Zu diesem Zweck wurde die Biologie der Vererbung auf explizite und implizite Motive zur Vererbung erworbener Eigenschaften hin untersucht. Schließlich wurden in einem fünften Teilprojekt die Politik des kulturellen Erbes und seine Verbindung zum nationalen Diskurs am Beispiel von Deutschland rekonstruiert und daraufhin befragt, ob und wie sich die anderen Aspekte von Erbschaft in dieser Ebene des 'symbolischen Kapitals' niederschlagen.
Das interdisziplinäre Format konzentrierte sich auf den Austausch zwischen historischen, rechtsgeschichtlichen, literatur- und kulturgeschichtlichen sowie biowissenschaftlichen Perspektiven. Gemeinsamer methodischer Bezugspunkt war eine kulturwissenschaftlich aufgefasste Begriffsgeschichte, die das Scharnier für die Verknüpfung der unterschiedlichen Untersuchungskonstellationen bildete. Darin kamen wissenschafts- und diskursgeschichtliche Perspektiven, Forschungen zur historischen Semantik und Analysen von literarischen und anderen Texten zum Zuge. Wird die Literatur als Archiv eines kulturell vermittelten Wissens über das Erben und Erbgesetze sowie als Schauplatz gelesen, auf dem die Konflikte im Umgang mit dem Erbe formuliert und imaginär ausagiert werden, so stellen auch andere textuelle Zeugnisse verschiedener Wissensregister wichtiges Material dar, um die Erbschaftsvorstellungen, die Erbe-Politik und die materielle Kultur des Erbens und Vererbens in der Geschichte zu untersuchen.
Die Forschungsarbeit schließt an das Projekt Das Konzept der Generation: Zur narrativen, zeitlichen und biologischen Konstruktion von Genealogie an, welches von 2001−2005 am ZfL durchgeführt wurde. Von 2007–2010 wurde die Forschung im Projekt Generationen in der Erbengesellschaft – ein Deutungsmuster soziokulturellen Wandels fortgeführt und erweitert (ebenfalls gefördert durch die VolkswagenStiftung im Rahmen des Programms »Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften«).
Publikationen
Erbfälle
Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne
Erbe
Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur
Das Testament als literarisches Dispositiv
Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts
Das Konzept der Generation
Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte
Erbe, Erbschaft, Vererbung
Genea-Logik
Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften
Erbe, Erbschaft, Vererbung
Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel
Veranstaltungen
Streitfall ERBE. Hat Ver-/Erben Zukunft?
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum
Kulturen des Erbrechts
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
1968 – zum Nachleben und Erbe einer Generation
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
Das Nachleben der Toten im Erbe
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Medienecho
Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer untersuchen das Konzept der Generation. Rezension von Roger Fornoff, in: literaturkritik.de 2 (2009)
Rezension von Petra Gehring, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.3.2008
Rezension von Petra Gehring, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 4 (2007), 634–637
Erbe, Erbschaft und Vererbung: ein Projekt zu Überlieferungskonzepten zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel, in: VolkswagenStiftung (Hg.): Impulse für die Wissenschaft 2007 – Aus der Arbeit der VolkswagenStiftung (Hannover, Dez. 2006), 70–74
Rezension von Hartwin Brandt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.9.2006
Volkswagenstiftung fördert geisteswissenschaftliche Projekte. Artikel, in: Tagesspiegel vom 7.4.2004