Das Konzept der Generation. Zur narrativen, zeitlichen und biologischen Konstruktion von Genealogie

Die gegenwärtige Konjunktur des Generationenbegriffs reicht von der Literatur über die Soziologie, Psychoanalyse, Geschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte bis ins Feuilleton und die Produktwerbung. »Generation« versteht sich als kulturelles Deutungsmuster, das sowohl eine Einheit von Erfahrungen und Eigenschaften faßt als auch den zeitlichen Abstand und die Merkmalsunterschiede zu vorausgegangenen Generationen definiert. Damit ist das narrative Muster der Generation, das in Literatur und Geschichte auf eine lange Tradition zurückblicken kann, auf viele andere Bereiche übertragen worden – und zwar ausgerechnet in einer historischen Situation, in der die Praktiken, die mit den Fortschritten der Biowissenschaften und der Reproduktionsmedizin entstehen, als Intervention in die bislang als natürlich erachtete Genealogie der familialen Generationenverhältnisse interpretiert werden.

Den zahllosen Texten, die mit dem Begriff der Generation operieren, steht ein auffälliger Mangel an systematischen Untersuchungen zu Bedeutung und Geschichte des Konzepts gegenüber. Nach wie vor ist die Forschungsliteratur fast ausschließlich auf einen soziologischen Begriff festgelegt: auf Karl Mannheims Verständnis der Generation als einer Kohorte, deren Zusammenhang sich durch jahrgangsspezifische Erlebnisse und Milieuwirkungen begründet – sowie auf die Genese dieses soziologischen Begriffs im 19. Jahrhundert. Die Vorgeschichte des vieldeutigen, hybriden, zwischen verschiedenen Diskursen und Disziplinen kursierenden Konzepts der Generation schien lange Zeit unter der Dominanz dieses soziologischen Begriffs verdrängt zu sein.

Diese Vorgeschichte, die Genese und Archäologie des Konzepts im Feld zwischen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, hat das Projekt zum »Konzept der Generation« zwischen 2001 und 2005 bearbeitet. Dabei erwies sich, dass die Generation als hybrides Konzept, das sich zwischen mehreren Bereichen des Wissens bewegt, einen exemplarischen Fall für die Rekonstruktion der Trennungsgeschichte zwischen Geistes- und Naturwissenschaften darstellt. So wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Zäsur von der Präformationslehre zur Epigenesis die Generation zu einem zentralen Dispositiv für Biologie und Zeugungslehre, während sich gleichzeitig eine Familialisierung des Generationenverhältnisses ereignet, die das heutige soziologische Konzept präfiguriert. Zeitgleich vollziehen sich semantische Umcodierungen, etwa der Bedeutungswandel des deutschen Wortes »Geschlechter« (von den Ahnentafeln zu einem gender-Konzept), in deren Folge sich die Generation in eine (eher männlich konnotierte) Agentur von Entwicklung und Bildung, also von futurisierter Geschichte, verwandelt.

Die Ergebnisse der Projektgruppe dokumentieren nicht nur die Rekonstruktion solcher wissenschaftsgeschichtlicher Differenzierungen im Begriff »Generation«. Sie erschließen auch die verschwundenen Bedeutungen der Generation als symbolischer Form der Kulturgeschichte: als mythologisches Narrativ, als zyklisches Zeitmodell, als Repräsentation von Verwandtschaftsordnungen. Diese vor- und außerdisziplinäre Geschichte des Generationenkonzepts – gerade auch mit Blick auf die konzeptuell hybriden Darstellungsmodi literarischer Texte – lässt sich nun als unabdingbare Ergänzung jüngerer, disziplinär fixierter Konzepte der Generation lesen.

Fortgeführt und erweitert wurde die Forschungsarbeit von 2004 bis 2007 in dem Projekt Erbe, Erbschaft, Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel sowie von 2007 bis 2010 im Projekt Generationen in der Erbengesellschaft – ein Deutungsmuster soziokulturellen Wandels (beide gefördert durch die VolkswagenStiftung im Rahmen des Programms »Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften«).

gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2001–2004
Leitung: Sigrid Weigel, Thomas Macho (HU Berlin): bis 2002
Bearbeitung: Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer

Publikationen

Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer

Das Konzept der Generation
Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte

Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2008, 385 Seiten
ISBN 978-3-518-29455-0
Sigrid Weigel

Genea-Logik
Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften

Trajekte-Buchreihe
Wilhelm Fink Verlag, München 2006, 288 Seiten
ISBN 978-3-7705-4173-7
Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Sigrid Weigel, Stefan Willer (Hg.)

Generation
Zur Genealogie des Konzepts - Konzepte von Genealogie

Trajekte-Buchreihe
Wilhelm Fink Verlag, München 2005, 342 Seiten
ISBN 978-3-7705-4082-2

Veranstaltungen

Podiumsdiskussion
27.10.2014 · 19.00 Uhr

Streitfall ERBE. Hat Ver-/Erben Zukunft?

ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum

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Workshop
11.07.2005 – 12.07.2005 · 21.00 Uhr

What Should Inheritance Law Be?

ZfL, Jägerstr. 10/11, 10117 Berlin, R.06

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Konferenz
27.06.2002 – 29.06.2002 · 02.00 Uhr

Generation. Zur Genealogie des Konzepts - Konzepte der Genealogie

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Medienecho

13.02.2007
Vom Dichten und Zeugen

Rezension von Jochen Strobel, in: literaturkritik.de, Februar 2007

08.11.2006
Generation, Genealogie und Genetik

An der Schwelle zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. Rezension von Arne De Winde, in: IASLonline vom 19.11.2006

01.06.2006
Generationen strukturieren heute nicht mehr die Gesellschaft

Interview mit Sigrid Weigel, in: Psychologie heute (Juni 2006), 36–39

03.09.2002
Holzfällen

Mit Sigrid Weigel am Baum des Wissens sägen. Rezension von Caroline Pross, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.9.2002