Sirenen
Programm
Carola Welsh (ZfL): Die Sirene und das Klavier. Vom Mythos der Sphärenharmonie zur exerimentellen Sinnesphysiologie
Thomas Schnalke (Humboldt-Universität, Charité): Stumme Gesänge. Eine Sirene im Berliner Medizinhistorischen Museum
Philipp von Hilgers (HZK): Von der Dopplung der Sirene
"Es
ist die Formel für die List des Odysseus, daß der abgelöste,
instrumentale Geist, indem er der Natur resigniert sich einschmiegt,
dieser das Ihre gibt und sie eben dadurch betrügt." Theodor W. Adorno
hat in dieser Weise den Mythos der Sirenen auf seine Rationalisierung
durch das homerische Epos hin befragt. "Es ist unmöglich, die Sirenen zu
hören und ihnen nicht zu verfallen" - darum läßt Odysseus sich fesseln.
Gefesselt kann er zugleich den Sirenen "das Ihre" geben (die "Gewalt
seines Wunsches", seine "Hörigkeit": Odysseus "zappelt noch am Mastbaum,
um in die Arme der Verderberinnen zu stürzen") und es "neutralisier[en]
zur Sehnsucht dessen, der vorüberfährt". Die selbst verfügte Fesselung
erscheint so als Signum technischer Aufgeklärtheit wie die technische
Aufgeklärtheit eben als Fesselung. Vor allem aber erscheint diese List,
Technik oder "Veranstaltung" des Odysseus zuletzt als die alleinige
Botschaft der Überlieferung: "Das Epos schweigt darüber, was den
Sängerinnen widerfährt, nachdem das Schiff entschwunden ist. In der
Tragödie aber müßte es ihre letzte Stunde gewesen sein, wie die der
Sphinx es war, als Ödipus das Rätsel löste, ihr Gebot erfüllend und
damit sie stürzend."
Auch Maurice Blanchot hat auf diese
Leerstelle der Odyssee hingewiesen, ihr Bestehen allerdings anders
begründet: "Von jeher fand sich bei der Menschheit das nicht sehr edle
Bestreben, die Sirenen und ihre Glaubwürdigkeit zu schmälern, indem man
sie rundweg der Verlogenheit bezichtigte; verlogen in ihrem Gesang,
trügerisch in ihrem Seufzen, nur angeblich vorhanden, wenn man sie
anrührte; so sollten sie beschaffen sein; im Ganzen ohne wirkliches
Dasein und auf so kindische Art nichtexistent, daß der gesunde
Menschenverstand des Odysseus genügte, sie auszutilgen." Im Unterschied
zu Adorno hat Blanchot daher versucht, die Glaubwürdigkeit der Sirenen
zu stärken - nicht zuletzt, um so den Raum der Literatur besser erkunden
und beschreiben zu können. Keine einfache Aufgabe, denn den Sirenen
geht es, Blanchot zufolge, vor allem um Ablenkungen: Durch ihren Gesang
trachten sie danach, "aus der menschlichen Zeit ein Spiel zu machen und
aus dem Spiel einen ungebundenen Zeitvertreib". Die Sirenen senden also
irritierende Signale über das Meer; und die Art und Weise, in der
Odysseus diese Signale empfängt, zeugt auch nach Blanchot "von der Macht
der Technik". Ihm zufolge gelingt es den Sirenen jedoch, sich selbst
dieser Macht zu entziehen. Für Blanchot steht fest: "Den Gesang der
Sirenen vernehmen heißt soviel wie aus Odysseus, der man gewesen ist,
Homer zu werden."
In dieser Sichtweise gerät die Odyssee ebenso
zum "Grabmahl" der Sirenen wie zur Stätte ihrer fortwährenden
Wiedergeburt: "Es ist dies ein merkwürdiger Zug oder - sagen wir besser -
ein Anspruch der Sage. Sie ‚berichtet' nur sich selber, aber die-ser
Bericht bringt im Vorgang des Berichtens das, was erzählt wird, hervor
[...]." Diese zwiespältige Rückkehr der Sirenen ereignet sich indes
nicht nur im Feld der Literatur und ihrer Kritik (ob als Philosophie
oder als Literaturtheorie). Auch die modernen Wissenschaften haben den
Gesang der Sirenen vernommen - um ihn sogleich wieder verstummen zu
lassen. Diesmal bestand die List darin, den Namen einfach an rätselhafte
oder bemerkenswerte Dinge weiter zu reichen. Sirenen "sind" demnach
Tiere oder Menschen, deren hintere bzw. untere Extremitäten kaum
ausgeprägt bzw. mehr oder weniger verschmolzen sind, aber auch
technische Vorrichtungen, die zur Erzeugung exakter Töne dienen.
Immerhin wird den Sirenen somit nicht länger ihr "wirkliches Dasein"
bestritten. Sie werden der wissenschaftlichen, folglich auch der
historischen Untersuchung zugänglich. Dabei geht es zunächst um die
Anatomiegeschichte der natürlichen Sirenen, um ihren Körperbau und ihre
Stellung zwischen Land und Meer, Trockenem und Feuchtem; sodann um die
historische Physiologie jener Artefakte, die eben nicht Gesang, sondern
Töne hervorbringen, also um die Form und Funktion von Röhren, Scheiben
und Hebeln...
Die Sirenen solchermaßen in ihrer Dinghaftigkeit zu
begreifen heißt also, sie erneut um die Effekte ihres Gesangs zu
betrügen. Dennoch kann sich auch so ein Raum à la Blanchot eröffnen, ein
Zwischenraum, der den Abstand zwischen der Geschwätzigkeit der Diskurse
und dem Schweigen der Objekte auszufüllen beginnt. Am Beispiel der
Sirenen wollen die ZwischenRäume 6 die beim letzten Treffen unternommene
Annäherung an die Dinge ebenso fortsetzen wie die Suche nach Antworten
auf die zugehörige Frage, in welche Richtung sich die aktuellen Debatten
über material culture bewegen.