
Jahresthema 2025/26: Abschied von der Künstlichkeit
Ob KI menschliche Intelligenz überholt oder die Natur noch zu retten ist, das scheinen auf den ersten Blick dringlichere Fragen zu sein als ein mögliches Ende der Künstlichkeit. Aber vom Menschen und der Natur einmal abzusehen, um gegenläufig die Künstlichkeit in den Fokus zu rücken, ist nicht nur reine reizvolle Perspektivumkehr, sondern hat auch sachliche Gründe. Unsere Gegenwart ist nämlich derart mit Künstlichkeit durchsetzt, dass diese als solche gar nicht mehr auffällt – auch und leider gerade dann nicht, wenn man ein Deepfake gerne als solches enttarnen würde! Im Alltag dagegen kümmert es uns oft schon nicht mehr, ob wir oder die Sprachautomaten sprechen oder texten. Der Schwund der Künstlichkeit ist Funktion ihrer Omnipräsenz; darüber sind uns die Gegenbegriffe des Künstlichen abhandengekommen. Dieser Befund ist die Ausgangsbeobachtung beim neuen Jahresthema des ZfL, den die Beiträge dazu von Claude Haas, Aurore Peyroles und Georg Toepfer auf je andere Weise teilen.
Selbstverständlich wissen alle drei sehr wohl, dass Künstlichkeit mit schlichten Gegenbegriffen schon deshalb nicht beizukommen ist, weil der Mensch nie nur Natur, sondern stets auch Handwerker und Künstler ist. Helmuth Plessners »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit« bezeichnet den Umstand, dass unser Überleben auf herzustellende Hilfsmittel angewiesen ist, von Kleidung und Werkzeugen bis zu elaborierten Institutionen. Auch Karl Marx galt der Mensch als das einzige Lebewesen, welches die Mittel seiner Subsistenz durch Arbeit produzieren muss. Mithilfe einer Metapher überführte er diese Künstlichkeit in die Idee von Arbeit als »Stoffwechsel des Menschen mit der Natur«. Das hat Schule gemacht. Bis heute nennt man Künstlichkeiten ungern beim Namen: Im Labor hergestelltes Fleisch heißt jetzt In-vitro-Fleisch, nach den In-vitro-Babys, die auch nicht mehr ›Retortenbabys‹ heißen.
Die Bevorzugung ›naturidentischer‹ Terminologie setzt eine Höherwertigkeit des Natürlichen voraus, die ihrerseits alles andere als selbstverständlich ist und erst mit bürgerlichen Moralvorstellungen im 18. Jahrhundert in die Welt kam. Die begriffsgeschichtliche Skizze Georg Toepfers zeigt, dass Künstlichkeit im 17. Jahrhundert eigentlich das einzige Medium von Naturerkenntnis war. In einem Gedicht von Barthold Heinrich Brockes aus dieser Zeit heißt es von einer kleinen Fliege:
Wie so künstlich! fiel mir ein
Müssen hier die kleinen Theile ineinander
eingeschrenkt, durcheinander hergelenkt,
Wunderbar verbunden sein.
Wunderbar ist sowohl die Einrichtung selbst wie ihre Erkennbarkeit für den menschlichen Geist. Deren Konvergenz führt zurück auf den göttlichen Schöpfer und Artifex,
der die Welt
Wie erschaffen, so erhält,
Und so herrlich zubereitet.
Ganz verloren hat sich diese zwanglose Übergängigkeit von Künstlichkeit und Natur auch später nicht. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget nahm an, dass auf eine animistische Phase, in der dem Kind die Welt belebt erscheint, eine Phase des ›Artifizialismus‹ folge, in der das Kind glaubt, dass alles, auch die Natur, ›gemacht‹ sei.
In der von Aurore Peyroles beschriebenen Kunstinstallation Artificialis scheinen Piagets Phasen zu einer abenteuerlichen Hybridwelt verschmolzen worden zu sein. Vor die Unterscheidbarkeit von Künstlichkeit und Natur schiebt sich jetzt aber eine Binnendifferenz im Künstlichen: Die Künstlichkeit des Kunstwerks unterscheide sich von der neuartigen Künstlichkeit des KI-generierten Porträts durch die souverän über künstliche Mittel verfügende Autorschaft. Ein Echo findet diese Versicherung in Georg Toepfers Behauptung, dass der Mensch als das exklusiv der Verantwortung für andere fähige Wesen seine Sonderstellung auch in Zeiten eines möglichen Endes der Künstlichkeit nicht verliert.
Bei Claude Haas, den das Verhältnis von Kunst und Künstlichkeit in der Gegenwartsliteratur beschäftigt, schlägt Kunst Künstlichkeit – allerdings nur literarisch. Im Bestseller Die Anomalie ist es der fiktive Schriftsteller, der die Literatur als eine Künstlichkeit sui generis noch einmal für eine Welt rettet, in der Künstlichkeit nicht nur die Kunstfunktion infrage stellt. Das kritische Kerngeschäft der Entselbstverständlichung, ›vermeintlich Natürliches seiner Künstlichkeit zu überführen‹ (H. Blumenberg), ist möglicherweise an seine Grenzen gekommen. Statt zu fragen »Ist dies oder jenes künstlich oder natürlich (oder menschlich)?« könnte man umstellen auf die Frage »Wie zeigt sich das? Macht es sich kenntlich oder verbirgt es sich?« Damit würde der ganze Bereich der dissimulatio in den Blick rücken, die künstliche Verstellung, die erst im 18. Jahrhundert als gekünstelt und schlechte Eigenschaft der höfischen Welt geächtet wurde. Vielleicht gibt es ja nicht nur in den Klugheitslehren der Vormoderne noch Theorien des Künstlichen zu heben, die uns heute helfen können. In den kommenden drei Semestern werden wir die Archive daraufhin durchforsten.
Eva Geulen
Dieser Beitrag erschien erstmals als Editorial auf dem Faltblatt zum ZfL-JAHRESTHEMA 2025/26: ABSCHIED VON DER KÜNSTLICHKEIT.
Abb. oben: © D.M. Nagu, aus der Serie »And the Livin Ain’t Easy«, 2022
Siehe auch
Faltblatt
ZfL-JAHRESTHEMA 2025/26:
ABSCHIED VON DER KÜNSTLICHKEIT
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Beiträge
- Editorial: Jahresthema 2025/26 – Abschied von der Künstlichkeit
Eva Geulen - Zur Lage der Literatur nach dem Untergang ihrer Künstlichkeit in der Künstlichkeit
Claude Haas - Künstlichkeit und Natürlichkeit. Das Ende einer Entzweiung
Georg Toepfer - Künstlichkeit und Kunsterfahrung
Aurore Peyroles
Veranstaltungen
Claude Haas: Künstlichkeit im Überfluss. Überlegungen zur Gegenwartsliteratur
Universität Zürich, RAA-G-01, Aula, Rämistraße 59, 8001 Zürich, Schweiz