Jahresthema 2019/20: Historisieren heute
Ob man das nicht historisieren müsse – diese Frage hört man heute häufig. Phänomene, Begriffe und Theorien müssten im Kontext ihrer Entstehungsbedingungen verstanden werden. Historisiert wird dabei insbesondere das, was lange als unwandelbar oder allgemeingültig galt: die Natur etwa oder die Gegenwart. Damit ist noch nicht gesagt, wie konkret vorgegangen werden soll: Welche Verfahren und Methoden sollen verwendet werden, welcher Kontext – es gibt ja stets mehrere – soll herangezogen werden? Wie soll das Resultat aussehen, und was verspricht man sich überhaupt vom Historisieren? Angesichts des Klimawandels wird die Frage nach einer Geschichte der Natur dringlich, angesichts des schwindenden gesellschaftlichen Grundkonsenses ist entscheidend, welche Geschichte etwa der Demokratie oder Europas man erzählt, und im Konfliktfall – prägnant etwa im Kontext der zahlreichen neuen Nationalismen – ist ohnehin immer umstritten, wer welche Geschichte über wen erzählt.
Von Anfang an gehörte es zum Selbstverständnis der Geisteswissenschaften, historische Wissenschaften zu sein. Sie verstehen ihre Gegenstände aus deren Gewordensein und stellen sie historisch dar. Ihr Programm war allerdings von vornherein auch der Versuch, das »verzehrende historische Fieber«, vor dem Nietzsche warnte, einzudämmen und mehr zu sein als bloße Anhäufung von Daten, Quellen, Materialien – nämlich eine Erkenntnis eigener Art, mal Einfühlung und Verstehen, mal Kritik und Reflexion. Die Auseinandersetzung über diese Eigenart, ihr Verhältnis zu den Naturwissenschaften und ihre politischen Implikationen haben die großen geisteswissenschaftlichen Debatten im 20. Jahrhundert bestimmt.
Seit den 1980er Jahren mehren sich indes die Stimmen, die das Zeitalter der Geschichte abgelöst sehen durch ein neues »Regime des Präsentismus« (François Hartog) oder durch eine »breite Gegenwart« (Hans Ulrich Gumbrecht), deren Vergangenheit medial dauerpräsent gehalten wird. Im wissenschaftlichen Diskurs ist neben die Geschichte das Gedächtnis als zentrales Paradigma getreten, weil ›Gedenken‹ und ›Erinnern‹ einer anderen Grammatik folgen als ›Historisieren‹. In Deutschland hat die Auseinandersetzung darüber, wie eine ›Historisierung des Nationalsozialismus‹ vorgehen solle, gezeigt, dass Historisierung auch politische und moralische Kosten haben kann.
Vor diesem Hintergrund hat das Historisieren in den Geisteswissenschaften, denen ohnehin ihr Selbstverständnis fraglich wurde, seine Selbstverständlichkeit verloren. Gedächtnis ist ja nur einer jener Großbegriffe, an denen entlang sich die disziplinäre Identität der Geisteswissenschaften gelockert hat. Die Reihe der turns – linguistic, narrative, iconic, perfomative etc. – hat die alten Fächer und ihre Literatur-, Kunst-, Theatergeschichten infrage gestellt und erweitert. Zwar verstehen sich auch die Kulturwissenschaften als historische und eröffnen sogar Raum für viele neue Geschichten von Dingen, die vorher als nicht geschichtsfähig galten. Aber was das jeweils bedeutet, wie man beispielsweise Performanz, Bildlichkeit oder Ethik historisiert, ist darüber vollends unübersichtlich geworden.
Heute historisieren verschiedene Disziplinen und Diskurse je anders: Jede und jeder hat bevorzugte Epochen, Zäsuren und Reichweiten; auch die Schreibweisen, Tonlagen und Zwecke unterscheiden sich voneinander. Man kann historisieren, um etwas in größere Zusammenhänge einzuordnen oder um bestimmte Erzählungen komplexer zu machen; Historisieren kann Kontinuitäten aufzeigen oder im Gegenteil versuchen, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen« (Walter Benjamin); durch Historisierung kann man Phänomene relativieren, kritisieren oder sie allererst sichtbar machen; Historisieren kann bedeuten, etwas endlich zu den Akten legen zu wollen oder angetrieben zu werden vom »desire to speak with the dead« (Stephen Greenblatt).
Ob es sich dabei um immer neue Varianten der klassischen Verfahren der Historisierung handelt, ob sich diese angesichts der veränderten Form der Geschichte erschöpft haben oder ob neue, alternative Formen des Historisierens entstehen, ist dabei keineswegs ausgemacht. Das neue Jahresthema des ZfL ist einem zentralen Verfahren der Geistes- und Kulturwissenschaften gewidmet, das deren Unschärfen, aber auch deren Vielfalt und Potential widerspiegelt.
Daniel Weidner
Abb. oben: D.M. Nagu
Siehe auch
Faltblatt
ZfL-JAHRESTHEMA 2019/20:
HISTORISIEREN HEUTE
Bestellen Sie Ihr
gedrucktes Exemplar (kostenlos)!
Beiträge
- Editorial
Daniel Weidner - Verrufenes Historisieren
Patrick Eiden-Offe - Drama, nach der Historisierung
Maria Kuberg - Blumenbergs Möglichkeitsgeschichten
Hannes Bajohr
Publikationen
Historisieren
Themenheft von KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft
- Clara Fischer: Heimeliges Heldinnentum. Anne Webers »Annette, ein Heldinnenepos«, in: ZfL Blog, 5.10.2020
- Eva Geulen: Altes und Neues aus den Literaturwissenschaften, in: ZfL Blog, 7.9.2020
- Ross Shields: Reading the Aesthetics of Resistance, in: ZfL Blog, 29.6.2020
- Dirk Naguschewski: Auf Tuchfühlung mit deiner Stadt. Berlin-Erkundungen mit Monika Wagner und Vittorio Magnago Lampugnani, in: ZfL Blog, 6.3.2020
- Carlo Ginzburg: Gertrud Bing über Aby Warburg und eine Philologie der Überlieferung, in: ZfL Blog, 25.2.2020
- Pola Groß: Stilisierung zum Kuschel-Philosophe. Zur Rezeption von Adornos »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«, in: ZfL Blog, 27.1.2020
- Daniel Weidner: Transitions, Thresholds, Traditions. Hans Blumenberg and Historical Thought, in: ZfL Blog, 9.10.2019
- Matthias Schwartz: Geschichte als ununterbrochene Performance. Das Queer Archives Institute, in: ZfL Blog, 3.9.2019
- Maria Kuberg: Drama, nach der Historisierung, in: ZfL Blog, 11.6.2019
- Mareike Schildmann, Patrick Hohlweck: Auf dem Boden der Tatsachen, in: ZfL Blog, 13.5.2019
- Hannes Bajohr: Blumenbergs Möglichkeitsgeschichten, in: ZfL Blog, 8.5.2019
Engl. version: Hans Blumenberg’s History of Possibilities, in: JHI Blog. The blog of the Journal of the History of Ideas, committed to diverse and wide-ranging intellectual history, 8.7.2019 - Patrick Eiden-Offe: Verrufenes Historisieren, in: ZfL Blog, 29.4.2019
Veranstaltungen
History goes Pop? On the Popularization of the Past in Eastern European Cultures
European University Viadrina, Europaplatz 1, 15230 Frankfurt (Oder), Gräfin-Dönhoff-Gebäude, R. 05
Historisieren. Fragen an ein Verfahren der Geistes- und Kulturwissenschaften
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Aufgang B, 3. Etage
The Stalingrad Myth. Russian-German Comparative Perspectives
Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst, Zwieseler Str. 4, 10318 Berlin
Matthias Schwartz: Demons and Saints of the Past. On the Popularity of History in Contemporary Literatures
Universität Amsterdam, PC Hoofthuis, Spuistraat 134, 1012 VB Amsterdam (NL), Raum 104
Caroline Arni (Universität Basel): Zeiten symmetrisieren. Rekursive Geschichtsschreibung als Historisierung
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
Monika Dommann (Universität Zürich): Kann die Hyper-Gegenwart historisiert werden, und wozu? Ein Versuch
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, 3. Et., Trajekte-Tagungsraum 308
Politics – History – Eschatology. Functional, Inter(con)textual, Structural, and Comparative Approaches to Gog and Magog
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Bismarckstraße 1, 91054 Erlangen, Raum C 202
Historisierung. Formen, Praktiken, Relevanz
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Aufgang B, 3. Etage
Matthias Schwartz: Das Land der Schurken. Historisierung und Aktualisierung von Oktoberrevolution und Bürgerkrieg in russischer Gegenwartskultur
Universität Passau, Innstraße 41, 94032 Passau
Matthias Schwartz: »History next door«. On the Topicality of the Historical Novel Today
Universität Amsterdam, Spuistraat 134, 1012 VB Amsterdam, PC Hoofthuis, Raum 105