Jahresthema 2023/24: Aktivismus und Wissenschaft

In den aktuellen Debatten um politischen Aktivismus und institutionalisierte Wissenschaft lässt sich unschwer das alte Muster ›Elfenbeinturm‹ vs. Engagement erkennen, das zahlreiche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert geprägt hat. Angesichts dieser langen, wechselvollen und produktiven Geschichte könnte man mit dem Thema eigentlich gelassener umgehen als der aufgeregte Ton heute nahelegt. In ihrem Beitrag zu den Osteuropawissenschaften in Zeiten des Krieges wundert sich auch Nina Weller, dass längst überwunden geglaubte Fronten sich neu formieren. Henning Trüper erinnert daran, dass moderne Wissenschaft immer von politischen Instanzen wie dem Staat abhängt. Patrick Eiden-Offe stellt anhand der Frankfurter Hölderlin-Edition, deren politische Motive einen Paradigmenwechsel in der Editionswissenschaft herbeiführten, die Verträglichkeit von Politik und Wissenschaft exemplarisch unter Beweis. Er zeigt aber auch, dass dem akademischen Erfolg des Projektes dessen politische Motive zum Opfer fielen; bei der Durchsetzung neuer Editionsprinzipien blieb der politisch-aktivistische Impuls auf der Strecke.

Könnte es heute umgekehrt die Wissenschaft sein, die auf der Strecke bleibt? Und wenn es so wäre, könnte das damit zusam­menhängen, dass einerseits die Politik (national und auf EU-Ebene) sowie viele Förderorganisationen eine ›transformative Wissenschaft‹ einfordern? Und dass andererseits immer mehr junge Menschen ihre akademische Entwicklung in den Dienst dieses oder jenes Aktivismus stellen? Haben wir es mit einer bisher unbekannten Konvergenz eines Aktivismus ›von oben‹ und ›von unten‹ zu tun?

Man muss so vorsichtig fragen, um nicht in das herrschende Reiz-Reaktions-Schema zu fallen.  Die allseits beklagten Polarisierungen, so heißt es oft auf beiden Seiten, seien akuten Bedrohungen, Nöten und Krisen geschuldet, deren Bewältigung keinen Aufschub dulde. Aber ob der Klimawandel dadurch gestoppt wird, dass in den Geistes- oder Kulturwissenschaften immer neue Gegenstandsbereiche wie Ecocriticism, Animal- und Plant Studies entstehen, kann man fragen. Die bei Henning Trüper angedeutete Dynamik proliferierender single-issue-Aktivismen hat jedenfalls längst den akademischen Fächer- und Disziplinenkanon erreicht. Weil diese Vielfalt auf die Dauer auch Zerfallseffekte nicht nur in der Wissen­schaft zeitigt, hat der Journalist Knut Cordsen jüngst gefragt: »Wieviel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?«  

Unter Umständen heute noch lehrreich ist die Kon­tro­verse zwischen Herbert Marcuse und Jürgen Habermas aus den späten 1960er Jahren. Der Marxist Marcuse vertrat im Eindimensionalen Menschen die radikale Ansicht, dass Wissenschaft unter kapitalistischen Bedingungen zwangsläufig zum ideologischen Erfüllungsgehilfen des Systems werde. Eine revolutionäre Veränderung der herrschenden Verhältnisse müsse auch »die Struktur der Wissenschaft selbst beeinflussen«. In einem postrevolutionär befriedeten Weltzustand würde die Wissenschaft »zu wesentlich anderen Begriffen der Natur gelangen und wesentlich andere Tatsachen feststellen«.

Jürgen Habermas, für den interessenfreie Erkenntnis weder in der Wissenschaft noch sonst irgendwo möglich war, hat Marcuses Utopie relativiert, indem er ihre historischen Voraussetzungen namhaft machte. Denn erst im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, als sich verschärfende Krisen den Staat und die moderne, wissenschaftlich unterstützte Sozial- und Wissenschaftspolitik als Korrektiv auf den Plan riefen, bildete sich, was Habermas 1968 in Wissenschaft als ›Ideologie‹ die »gläserne Hintergrundideologie« nennt, »welche die Wissenschaft zum Fetisch macht«. Mit der zeitgleich einsetzenden Verwissenschaftlichung der Technik habe das zu jenem technokratischen Politikverständnis und einer entsprechenden Konfliktvermeidungspraxis geführt, gegen das die 68er-Generation aufbegehrte. In den protestierenden Studierenden des Jahres 1967 erkannte Habermas »Aktivisten«, die das Potential hätten, »auf eine Repolitisierung der ausgetrockneten Öffentlichkeit« hinzuwirken.  Das besondere Protestpotential dieser Gruppe verdanke sich auch ihrer wissenschaftlichen Erfahrung. Weil ihre Vertreterinnen und Vertreter »relativ oft aus sozialwissenschaftlichen und philologisch-hermeneutischen Fächern« kämen, erwiesen sie sich als »immun gegenüber dem technokratischen Bewußtsein«, weil ihre »primären Erfahrungen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit mit dem technokratischen Grundgedanken nicht zusammenstimmen«. Offenbar ist (oder war) Wissenschaft aufgrund ihrer Eigenlogik zu Selbstimmunisierungsleistungen in der Lage, die sie in der Folge auch zu emanzipatorischen gesellschaftlichen Handlungen sowohl innerhalb wie außerhalb der institu­tionalisierten Wissenschaft ermächtigen.

Aber reichen solche Beobachtungen hin, die aktuellen Debatten um Aktivismus und Wissenschaft vor allem in den Geistes- und Kulturwissenschaften zu erklären? Welche Rolle spielen die sogenannte Cancel Culture und die Diskussionen um kulturelle Aneignung in der Kunst? Das sind einige der Fragen, denen sich das ZfL in den kommenden drei Semestern widmen möchte.

Eva Geulen

Dieser Beitrag erschien erstmals als Editorial auf dem Faltblatt zum ZfL-JAHRESTHEMA 2023/24: AKTIVISMUS UND WISSENSCHAFT.

 

Abb. oben: Modernisierung eines Hörsaals im Ernst-Ruska-Gebäude der TU Berlin, 2017
© TU Berlin/PR/Groh

Siehe auch



Faltblatt
ZfL-JAHRESTHEMA 2023/24:
AKTIVISMUS UND WISSENSCHAFT
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Beiträge

  • Editorial: ZfL-Jahresthema 2023/24 – Aktivismus und Wissenschaft
    Eva Geulen
  • Aktivismus und Kulturgeschichte des Moralischen
    Henning Trüper
  • Editionsphilologie als Aktivismus: Der umkämpfte Hölderlin
    Patrick Eiden-Offe
  • Wissenschaftsaktivismus und Osteuropaforschung in Zeiten des Krieges
    Nina Weller

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Debattenbeitrag von Christa Roth, in: Der Freitag 6 (8.2.2024), 15