Fixe Ideen. Zur Beharrlichkeit von Fiktionen
Programm
Der Name Zwischenräume steht für halbjährliche
Kooperationstreffen, die seit Februar 2001 zwischen dem Hermann von
Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu
Berlin, dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin und
dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin abgehalten wurden
und die nun unter Beteiligung des Instituts für Deutsche und
Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin fortgesetzt
werden. Ziel dieser Treffen ist es, den Austausch zwischen den vier
Einrichtungen sowohl auf inhaltlicher als auch auf personeller Ebene zu
intensivieren.
Die Veranstaltung Fixe Ideen - Zur Beharrlichkeit von Fiktionen versteht sich als zweiter Teil einer Reihe mit dem Titel Wissenschaftsfiktionen. Methoden - Figuren - Projekte,
die jeweils unterschiedliche Perspektiven auf die vielfältigen, häufig
unklaren und umstrittenen Verbindungen von Wissenschaft und Fiktion
entwickelt.
Außerordentliche Einfälle, die in wiederkehrenden
Gedanken oder alles überragenden Vorstellungen einen Bedeutungszuwachs
erfahren, werden als „fixe Ideen“ bezeichnet. Die Figur der „fixen Idee“
fand ihre Theoretisierung, aber auch kritische Umdeutung in der
klinischen Psychologie des 19. Jahrhunderts. Eine verfestigte
Wahnvorstellung, die in der Chronik einer psychischen Krankheit den
zentraler Dreh- und Angelpunkt markiert, wurde als „fixe Idee“
denotiert. Die Fixierung einer Idee, eines einmaligen mentalen
Ereignisses, ist jedoch ein Widerspruch in sich. Denn gerade ihr
wiederholtes Aufrufen führt zur stetigen Aktualisierung, Variation und
Modifikation. Genau diese Widersprüchlichkeit greift Paul Valéry in
seiner „Idée fixe“ auf, um der scheinbaren Rigidität eine latente
Beweglichkeit entgegenzustellen.
In der Historiographie der Wissenschaftlichkeit nehmen „fixe Ideen“
einen ambivalenten Status ein. Als möglicher Ausgangspunkt eines
Gedankengebäudes tragen sie zu seiner Fundierung, Durchsetzungskraft
oder sogar Glaubwürdigkeit bei. So können fiktive Denkfiguren und
Modelle auf Grundlage einer zum Paradigma erhobenen „fixen Idee“
Jahrzehnte lang mit konkurrierenden Theorien parieren, ohne
mathematische Beweise oder experimentelle Gültigkeit an den Tag zu
legen. Ihre Widerlegung oder der Bruch mit einem solch beharrlichen
Paradigma führt meist zu einer nachträglichen Degradierung zum
„Hirngespinnst“, um so Objektivität und Unfehlbarkeit einer
wissenschaftlichen Disziplin zu rehabilitieren. Oder aber die „fixe
Idee“ überdauert in Vergessenheit, um dann mithilfe neuerer Methoden und
Experimentaltechniken ihre Umwendung in eine „waschechte“ Theorie zu
erfahren.
In der zweiten Sitzung der Wissenschaftsfiktionen werden die immanente
Widersprüchlichkeit oder das Paradoxe der „fixen Ideen“ untersucht, die
sich in ihrer Beharrlichkeit, aber auch gleichzeitigen Unberechenbarkeit
der Realisierung oder des Erfolgs zeigen.
Programm
14.00
Begrüßung
14.20-15.10
Martin Hense, Jutta Müller-Tamm/Freie Universität Berlin:
Seelenwanderung. Zur Konjunktur eines Konzept im 18. Jahrhundert
Moderation: Barbara Wildenhahn
15.20-16.10
Erik Porath/Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin:
Zwischen Fixierung und Ideenflucht. Assoziationismus, Übertragung und Wiederkehr in der Freudschen Psychoanalyse
Moderation: Uwe Wirth
16:10-16:50
Kaffeepause
17.00-17.50
Philipp von Hilgers/Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin:
Black box. Das Reale des "Schwarzgeräts" in Pynchons Weltkriegsepos und das Fiktive des Grundmodelles der Systemtheorie
Moderation: Ana Ofak
Abstracts
Martin Hense, Jutta Müller-Tamm: Seelenwanderung. Zur Konjunktur eines Konzepts im 18. Jahrhundert
Die
Vorstellung von Seelenwanderung und Wiedergeburt erlebt in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts selbst bei prominenten Aufklärern wie
Lessing oder Lichtenberg eine auf den ersten Blick überraschende
Konjunktur. Ältere, geistesgeschichtlich orientierte Studien haben das
Aufkommen der Reinkarnationsvorstellung im 18. Jahrhundert der -
unterschiedlich bewerteten - irrationalistischen Kehrseite der
Aufklärung zugeschlagen. Der Beitrag geht hingegen von der Überzeugung
aus, daß es zunächst gilt, das Feld des positiven Wissens zu
beschreiben, innerhalb dessen Palingenesie und Metempsychose im 18.
Jahrhundert überhaupt diskutabel werden. Ein solcher Ansatz ergibt unter
anderem, daß die Konzepte von Seelenwanderung und Wiederverkörperung
gerade aufgrund ihrer Integrationsleistung und ihrer Anschlußfähigkeit
an biologische, anthropologische, geschichtsphilosophische und
ästhetische Diskussionszusammenhänge attraktiv werden. Die "fixe Idee"
der Seelenwanderung - Lichtenberg etwa spricht von seinem System und seiner
merkwürdigen Meinung von der Seelenwanderung - soll also nicht als
religionsphilosophisches Theorem, sondern als Figur des Wissens
betrachtet werden. An ausgewählten Beispielen wird die Funktion dieser
Denkfigur im Wissenshaushalt der Zeit untersucht.
Erik Porath: Zwischen Fixierung und Ideenflucht. Assoziationismus, Übertragung und Wiederkehr in der Freudschen Psychoanalyse
Freuds
und Breuers Einsicht, die "Hysterischen leiden an Reminiscenzen", läuft
in therapeutischer Hinsicht auf die kathartische Auflösung der
insistierenden sinnlichen Eindrücke, vornehmlich der Bilder, hinaus, und
zwar durch das 'Absprechen', das ausdrückliche Erinnern der pathogenen
Situation in der analytischen Kur. In seiner ausführlichen
Auseinandersetzung mit dem tradierten wissenschaftlichen,
philosophischen und literarischen Wissen über Traum und Träumen in der Traumdeutung
konstatiert Freud eine Ähnlichkeit zwischen der Flüchtigkeit der
Traumbilder und der psychopathologischen Diagnose der Ideenflucht.
Der
psychoanalytische Terminus der Fixierung entwickelt sich in der
Spannung zur angestrebten therapeutischen Auflösung, d. h. Analyse von
psychischen Bildungen einerseits und dem Widerstand sowohl gegen
Ideenflucht als auch gegen die grundsätzliche Flüchtigkeit der
Wahrnehmung andererseits. So bildet Fixierung zum einen die zentrale
Kennzeichnung pathologischer Zustände bzw. Vorgänge (das
Nicht-anders-Können des Neurotikers, das Nicht-weichen-Wollen der
Symptome, die Hartnäckigkeit der Wiederholung des Schreckenerregenden
und der Wiederkehr des Verdrängten), zum anderen ist Fixierung für Freud
positiv konnotiert mit den Grundmechanismen der Gedächtnisbildung,
nämlich den verschiedenen Niederschriften in den Erinnerungssystemen.
Damit ist Fixierung auch in den Gegensatz zwischen der Erhaltung von
Dauerspuren im Gedächtnis und der unverändert frischen Aufnahmefähigkeit
des Wahrnehmungssystems eingeschrieben.
Der Vortrag wird sich einleitend mit den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen von idée fixe und Ideenflucht
vor und bei Freud beschäftigen und dabei besonders die Aufnahme und
Transformation des klassischen Assoziationismus im Hinblick auf eine
Theorie der anderen Assoziation in der Psychoanalyse
berücksichtigen. Daran anschließend soll kurz skizziert werden, wie die
Phänomene der fixen Idee und der Ideenflucht vor dem Hintergrund der
psychoanalytischen Theorie der Assoziation erscheinen. Zuletzt geht es
um fixe Ideen im Werk Freuds selbst.
Philipp von Hilgers: Black box. Das Reale des "Schwarzgeräts" in Pynchons Weltkriegsepos und das Fiktive des Grundmodelles der Systemtheorie
Frage: Was kommt nach der Aufklärung? Antwort: Die black box! Mit dem Aufkommen der Kybernetik hat das 20. Jahrhundert in der Annahme von systemimmanenten Uneinsichtigkeiten zu einer ultima ratio gefunden, deren Sinnbild das Schema der black box
darstellt: Die innere Wirkungsweise eines Systems ist hier allein
aufgrund von äußeren Ein- und Ausgangsdaten zu erschließen. Der Mehrwert
dieses Denkmodells scheint darin zu liegen, daß durch die Ausblendung
der konkreten materiellen Beschaffenheit von Operationalitäten,
Problemlösungen nunmehr allein im Bereich des Symbolischen zu suchen
sind. Eine historische Rekonstruktion des Diskurses um die black box,
der sich noch während der Zeit des Zweiten Weltkrieges entspinnt,
zeigt, daß seine Dynamik im Wesentlichen aus zwei in einem
Spannungsverhältnis stehenden Momenten hervorgeht. Zum einem offenbart
die black box, daß eine fiktive Konfiguration einräumt,
Komplexitäten und Unberechenbarkeiten auf symbolischer Ebene
hervorzubringen, wie sie zuvor einzig im Detail und Konkreten physischer
Realitäten vermutet wurden. Zum anderen ist der black box eine
Geschichtlichkeit eingeschrieben, die von der Vorstellung, sie sei ein
reines Gedankenmodell, eher notdürftig verdeckt wird. Tatsächlich haben
Neurologen wie Warren McCulloch und Mathematiker wie Norbert Wiener die
medialen Dispositive des Zweiten Weltkriegs genauestens im Blick gehabt,
als sie die Metapher von der black box prägten. Eine Untersuchung zur Geschichte der black box als Sache und Begriff wird darüber nicht hinweggehen können.