Graffiti einer Figur mit großem orange-rotem Kopf im grünen Langarmshirt mit Kopfhörern auf den Ohren vor gelbem Hintergrund.

Affektiver Realismus. Osteuropäische Literaturen der Gegenwart

Ausgehend von der Beobachtung, dass seit der Jahrtausendwende eine neue Hinwendung zur Wirklichkeit proklamiert wird, die sich dezidiert gegen die postmodernen oder konstruktivistischen Ästhetiken der vorherigen Dekaden stellt, untersuchte das Projekt imaginäre Weltentwürfe und poetische Verfahren in den osteuropäischen Gegenwartsliteraturen. ›Neue Aufrichtigkeit‹ und ›neuer Realismus‹, Authentizität und Dokumentarismus sind die Schlagworte, unter denen eine jüngere Generation von Künstlerinnen und Künstlern sich gesellschaftspolitisch verortet. Doch dieser neue Realismus zielt weniger darauf, den untergründigen Gesetzen und impliziten Regeln der äußeren Welt eine adäquate künstlerische Form zu geben, als vielmehr darauf, subjektive Ausdrucksformen zu finden. Diese erzeugen unmittelbare ›performative‹ Evidenz, schaffen körperlich wahrnehmbare Präsenz und ermöglichen einen ›immersiven‹ Zugang zur eigenen Umwelt. Es geht also nicht ums kognitive Begreifen von Welt, sondern um deren sinnliche Erfahrung, um den Affekt. Fredric Jameson hat diesem Realismus des Affekts in Hinsicht auf die Massenkultur eine Abwendung von kohärenten Welterklärungsangeboten hin zu einer vorbewussten Körperlichkeit attestiert, die von den »globalen Wellen generalisierter Sinneseindrücke« erfasst wird.

Der Literaturkritiker Przemysław Czapliński sieht speziell in der polnischen Gegenwartsprosa einen »affektiven Realismus« am Werk, der keine »literarischen Texte« mehr hervorbringe, »sondern Kulturmüll – inkohärente Sprachen, zerstückelte Symbole, gesellschaftlich vertiefte Hassgefühle und Frustration, Formen der Verachtung, unerfüllbare Bedürfnisse und unstillbare Begehren«. Das Projekt analysierte die spezifischen Konfigurationen dieses ›Kulturmülls‹ vertiefter Frustration und unstillbarer Begehren in komparativer Perspektive insbesondere, aber nicht nur am Beispiel der polnischen Literatur. Dabei wurden in systematischer und historischer Hinsicht die Kategorien des Realistischen und Affektiven daraufhin geprüft, inwiefern sie sich zur Neubestimmung ästhetischer Praxis als tragfähig erweisen. In diesem Sinne wurden die ›inkohärenten Sprachen‹ und ›zerstückelten Symbole‹ zeitgenössischer Lyrik, Dramen und Prosawerke nicht als Scheitern gelesen, sondern als symptomatische Suchbewegungen, um innovative Darstellungsverfahren für die teils einschneidenden Folgen politischer Umbrüche, ökonomischer Deregulierung und transnationaler Migration zu entwickeln. Digitale Medien und globalisierte Populärkulturen haben kulturelle Praktiken und imaginäre Zugehörigkeiten hervorgebracht, die tradierte nationale und religiöse Ordnungsmuster grundlegend verändern. Dies lässt sich als eine Neufiguration des Verhältnisses von Individuellem und Kollektivem, Vergangenem und Gegenwärtigem, Eigenem und Fremdem, Privatem und Öffentlichem lesen, die in den künstlerischen Weltentwürfen aus dem Osten Europas vielleicht deutlicher als an anderen Orten des Kontinents symbolische Gestalt annimmt.

Programmförderung Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2017–2019

 

Siehe auch

Weltfiktionen post/sozialistisch. Literaturen und Kulturen aus Osteuropa (Matthias Schwartz, Projekt seit 2021)

Publikationen

Matthias Schwartz, Nina Weller, Heike Winkel (Hg.)

After Memory
World War II in Contemporary Eastern European Literatures

Media and Cultural Memory / Medien und kulturelle Erinnerung Bd. 29
de Gruyter, Berlin 2021, 479 Seiten
ISBN 978-3-1107-1373-2 (Print); 978-3-1107-1383-1 (E-Book)
Roman Dubasevych, Matthias Schwartz (Hg.)

Sirenen des Krieges
Diskursive und affektive Dimensionen des Ukraine-Konflikts

LiteraturForschung Bd. 38
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2020, 373 Seiten
ISBN 978-3-86599-356-4

Matthias Schwartz

Veranstaltungen

Podiumsdiskussion und Buchvorstellung
12.12.2019 · 18.30 Uhr

Kultur und Alltag im Ukraine-Konflikt

Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Mohrenstr. 60, 10117 Berlin

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Workshop
10.12.2019 – 12.12.2019

History goes Pop? On the Popularization of the Past in Eastern European Cultures

European University Viadrina, Europaplatz 1, 15230 Frankfurt (Oder), Gräfin-Dönhoff-Gebäude, R. 05

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Panel
26.11.2019 · 08.00 Uhr

Matthias Schwartz: Documentary Devices in Soviet Literature of the Thaw Period and Beyond

San Francisco Marriott Marquis, 780 Mission St, San Francisco, CA 94103 (USA), 4, Pacific H

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Vortrag
13.11.2019 · 16.00 Uhr

Matthias Schwartz: »Diener des Volkes«. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf postsozialistische Nationalismen und Populismen

Freie Universität Berlin, Osteuropa-Institut, Garystr. 55, 14195 Berlin, Hörsaal 55A

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Vortrag
07.11.2019 · 18.00 Uhr

Matthias Schwartz: Eine Welt ist nicht genug. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Fiktion

Universität Potsdam, Campus Griebnitzsee, 14482 Potsdam

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Vortrag
04.11.2019 · 17.00 Uhr

Matthias Schwartz: Demons and Saints of the Past. On the Popularity of History in Contemporary Literatures

Universität Amsterdam, PC Hoofthuis, Spuistraat 134, 1012 VB Amsterdam (NL), Raum 104

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Vortrag
25.09.2019 · 15.55 Uhr

Matthias Schwartz: Die Orientalisierung des Blicks. Zu den frühen Reportagen von Ryszard Kapuściński und Hanna Krall

Universität Trier, Universitätsring 15D, 54296 Trier

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Panel 219 at the Memory Studies Association Conference 2019
28.06.2019 · 15.15 Uhr

De/Fictionalising the Past. The Role of Literature and Film in Postsocialist Memory Cultures. Part 2: Case Studies

Complutense University Madrid, Moncloa Campus (Spain)

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Panel 191 at the Memory Studies Association Conference 2019
28.06.2019 · 12.45 Uhr

De/Fictionalising the Past. The Role of Literature and Film in Postsocialist Memory Cultures. Part 1: Theoretical reflections

Complutense University Madrid, Moncloa Campus (Spain)

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Vortrag
23.06.2019 · 12.00 Uhr

Matthias Schwartz: Télescopage im Populären. Zum Verhältnis von Trauma und Fiktion am Beispiel osteuropäischer Gegenwartsliteratur

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Steintor-Campus, Adam-Kuckhoff-Straße 34, 06108 Halle (Saale)

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Vortrag
05.06.2019 · 19.00 Uhr

Matthias Schwartz: Mare Desiderii. Sowjetische Mondfantasien und Erkundungsmissionen

Museum für Kommunikation Nürnberg, Lessingstraße 6, 90443 Nürnberg, Konferenzraum 2, 2.Etage

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Keynote
17.05.2019 · 14.30 Uhr

Matthias Schwartz: Making a New Literature. Towards a Cultural History of Soviet Scientific Fictions

Universität St. Petersburg, Universitätsufer (Университетская наб.) 7/9, 199034 St. Petersburg (Russland)

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Vortrag
08.05.2019

Matthias Schwartz: Das Land der Schurken. Historisierung und Aktualisierung von Oktoberrevolution und Bürgerkrieg in russischer Gegenwartskultur

Universität Passau, Innstraße 41, 94032 Passau

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Vortrag
15.04.2019 · 17.00 Uhr

Matthias Schwartz: »History next door«. On the Topicality of the Historical Novel Today

Universität Amsterdam, Spuistraat 134, 1012 VB Amsterdam, PC Hoofthuis, Raum 105

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Vortrag
17.01.2019 · 15.45 Uhr

Matthias Schwartz: Kontaktzonen der Moderne. Zu sowjetischen Konzeptualisierungen anti-kolonialer Abenteuerliteratur

Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, 80333 München

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Vortrag
27.06.2018 · 13.45 Uhr

Matthias Schwartz: Subverting the Human. Late Socialist Dystopian Cinema (Sokurov, Szulkin, Tarkovskii, Żuławski)

University of Amsterdam (UvA), City Center Campus, Oudemanhuispoort 4-6, 1012 CN Amsterdam

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Vortrag
11.05.2018 · 15.30 Uhr

Matthias Schwartz: Affektiver Realismus. Gegenwartsliteratur aus Osteuropa

Universität Tübingen, Geschwister-Scholl-Platz, 72074 Tübingen

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Panel auf der Memory Studies Association Conference 2017
14.12.2017 · 15.00 Uhr

Inventing a national trauma. Fictional and cinematic memory discourses as allegories of a contested present

Bella Center, Center Blvd. 5, 2300 København S (DK)

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ASEEES Convention Panel
09.11.2017 – 12.11.2017

After Memory. Rethinking Representations of World War II in Contemporary Eastern European Literatures

Chicago Marriott Downtown Magnificent Mile Hotel, 540 N Michigan Ave, Chicago, IL 60611 (USA)

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Vorlesungsreihe
29.06.2017

Affective Memories. Ukrainian Culture after Euromaidan

Universität Amsterdam, Spui 21, 1012 WX Amsterdam (NL)

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Tagung im Haus für Poesie Berlin
23.06.2017 – 24.06.2017

Poesis – Polis – Praxis. Positionen lyrischer Zeitgenossenschaft

Haus für Poesie, Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, 10435 Berlin

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Medienecho

18.02.2023
Roman Dubasevych: »Es ist ein Krieg inszenierter Traumata«

Sendung von Dietrich Brants, in: SWR2, Sendung Zeitgenossen

22.04.2020
History Goes Pop? On the Popularization of the Past in Eastern European Cultures

Tagungsbericht von Tom Koltermann / Nikolai Okunew, in: H-Soz-Kult vom 22.04.2020