
Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800
Das Projekt hat zum Ziel, die Geschichte einer bestimmten moralischen Norm zu untersuchen – des Imperativs der Seenotrettung – und hieraus einen Beitrag zum besseren Verständnis der Geschichte des Humanitarismus zu erarbeiten. Aus dieser Untersuchung werden auch neue Perspektiven auf die Geschichtlichkeit und kulturelle Gebundenheit moralischer Normen insgesamt entwickelt.
Seit 1823/24 entstanden in Großbritannien und den Niederlanden humanitäre Freiwilligenvereinigungen zur Rettung aus Seenot mit je nationaler Reichweite, die Netzwerke von Rettungsbootstationen mit Freiwilligenmannschaften aufbauten. Diesen Organisationen waren seit den 1760er Jahren lokale, meist nur temporäre Initiativen vorausgegangen. Bis um 1870 folgten in anderen Ländern, insbesondere im nord- und westeuropäischen Raum, ähnliche Organisationen. Innerhalb weniger Jahrzehnte gelang es einem überwiegend städtisch-bürgerlichen Milieu, die Küstenbevölkerung dazu zu bewegen, die universale Geltung eines Imperativs anzuerkennen, demzufolge unter fast allen Umständen, fast ohne Rücksicht auf eigene Lebensgefahr, der Versuch zur Rettung Schiffbrüchiger verpflichtend war. Vorher war Schiffbrüchigen nur gelegenheitshalber geholfen worden. Weder technische Innovation noch ökonomischer Anreiz erklären die neuen humanitären Bewegungen, sodass eine Untersuchung der moralischen Kultur selbst in den Mittelpunkt rückt.
Das Projekt untersucht die Frage, warum und wie der neuartige Imperativ entstand, wie er dauerhaft aufrechterhalten wurde und welche Weiterungen er in Kultur und Gesellschaft zeitigte. Schwerpunkte der Untersuchung liegen:
(1) auf der ›moralischen Ökonomie‹, den gemischten Wertsetzungen innerhalb der sozialen Bewegungen zur Seenotrettung;
(2) auf den kulturell bereitstehenden Diskurs- und Handlungsmustern zu Lebensrettung und Schiffbruch;
(3) auf der Arbeit, welche die Seenotrettungsbewegungen in die Distinktion von anderen moralischen und humanitären Unternehmungen investierten;
(4) auf der Diskussion der Folgen dieser historischen Analyse für moraltheoretische Positionen.
Die Untersuchung konzentriert sich auf die älteren Formen der Seenotrettung in Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland vom frühen 19. bis ins mittlere 20. Jahrhundert. Das Projekt arbeitet mit einer breiten kulturgeschichtlichen Quellenbasis (archivalische und veröffentlichte Quellen, Bildquellen) und einer Kombination von Methoden (hermeneutische Textanalyse, Diskursanalyse, Ikonographie, Mediengeschichte, theoretische Argumentation, Ideengeschichte).
Der Gang der Untersuchung zielt insgesamt darauf ab, aus der Fallstudie ein historisches und theoretisches Verständnis der Entstehung humanitärer Normen aus bloßen Einzelanliegen (single issues) anstelle allgemeiner Prinzipien zu entwickeln. Dieses Verständnis hilft dabei, die nachhaltige Inkohärenz und Fragmentierung des historisch gewachsenen Humanitarismus und dessen Distanz zu alltäglichen moralischen Diskursen zu erklären.
Die Forschungen schließen an das Projekt Humanitäre Imperative. Lebensrettung aus Seenot und Schiffbruch im Modernen Europa an, das von 2019 bis 2020 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde.
weitere Informationen zum Projekt
Abb. oben: Michael Peter Ancher: Redningsbåden køres gennem klitterne, 1883 (Ausschnitt). Quelle: Wikimedia
Publikationen
Seuchenjahr
DOI 10.52438/avaa1002 (Open Access)
Henning Trüper
- Species and Salvation: Theology of History in the Anthropocene?, in: Modern Intellectual History 19.1 (2021), 1–17
- Depth and Death: On History, Humanitarianism, and Mortuary Culture, in: History of the Present 11.2 (2021), 119–151
- Humanitäre und historische Brüche, in: Faltblatt zum ZfL Jahresthema 2020/21: EPOCHENWENDEN sowie auf dem ZfL Blog, 24.11.2020
Lukas Schemper
- Schiffbruch der Zivilisation. Überlegungen zu einer Metapher, in: ZfL Blog, 16.2.2022
Veranstaltungen
Moral Seascapes. Modern Transformations of the Imagery of Shipwreck
Institut für Germanistik, Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien
Henning Trüper: Writing Work and Authorship in Historiography
Luxembourg Learning Centre, Belval Campus, 7, Ënnert den Héichiewen, 4362 Esch an der Alzette, Luxemburg
Mikko Huhtamies: From Salvage to Lifesaving in the 18th-Century Baltic
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Aufgang B, 3. Etage, Trajekteraum
Nebiha Guiga: Piles of limbs and human souls: Disgust and distancing towards wounded soldiers during the Napoleonic Wars
online
Nebiha Guiga: The emotions of surgery on Napoleonic battlefields
National Army Museum, London
Aurélien Portelli: Surviving to the machines: coping with extreme situations in a context of industrial disaster and shipwreck
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Aufgang B, 3. Etage, Trajekteraum
Henning Trüper: Über Moralisches Geschehen
Centre Marc Bloch, Friedrichstraße 191, 10117 Berlin
Henning Trüper: Rescuing the dead from oblivion: humanitarian morality and historical discourse
Universidad Carlos III de Madrid, Campus de Getafe, Edificio Ortega y Gasset
Henning Trüper: Rettung und Geschichte
online via Zoom
Beiträge
03.05.2021 Video
»Rettung und Geschichte«
Antrittsvorlesung von Henning Trüper an der Universität Zürich
© Universität Zürich