ZfL INFO 26/2021: Neue Texte in der Anthologie »Nachbarschaften«
NEUE TEXTE IN DER ANTHOLOGIE »NACHBARSCHAFTEN«
- Jens Bisky fühlt sich wohl in Friedenau (10.05.2021)
- Büke Schwarz beobachtet im Comic gewandelte Nachbarschaften (09.04.2021)
- Edouard Compere flaniert über die Leipziger Straße (26.03.2021)
- Tobias Wilke folgt einem Gedicht auf seinem Weg durch Berlin (20.03.2021)
Jens Bisky: NACHBAR WERDEN
Foto: Jens Bisky
Vor acht Jahren sind wir nach Friedenau gezogen, fast ungewollt. Umziehen wollten wir schon, aber dass es nach Friedenau ging, war Zufall gewesen. Es lag an der Wohnung, nicht am Kiez, der auf meinem Stadtplan zuvor keine Rolle gespielt hatte. Ich kannte die Gegend im Südwesten wie ein Tourist, war mit Hamburg oder Frankfurt besser vertraut und stand dem sofort einsetzenden Spott der Freunde daher ratlos gegenüber. »Warum ziehst Du in die Vergangenheit?«, fragte mein Bruder, und eine junge Autorin trat einen halben Schritt zurück, musterte mich abschätzig: »So alt wirkst Du doch nicht. Hast Du mit dem Leben abgeschlossen?« – »Das kann ich mir leisten«, war die einzige Replik, die mir einfiel; dazu noch die Verlegenheitsauskunft, dass man in einer Viertelstunde am Ku’damm sei. Dessen unbeholfenes Streben nach Eleganz, das Westberliner Metropolengetue, hatte ich immer gemocht. Außerdem musste ein Großstadtbewohner nicht im Kiez hocken bleiben. Eine neue Nachbarschaft schien gut, wenn die Nachbarn einen nicht beachteten und auf soziale Kontrolle verzichteten, wenn man schnell wegkam und nachts bequem zurück. Hip war man selber oder eben nicht. Das war doch keine Frage der Adresse. Jahrelang hatte ich in Friedrichshain auf der Rennstrecke zwischen Berghain und Simon-Dach-Straße gehaust, Touristen den Weg in die umliegenden Clubs gewiesen und das Partytreiben enthemmter Provinzler direkt vor meinem Schlafzimmerfenster anhören müssen, ohne dass ich dadurch an Coolness gewonnen hätte. Aber nach Friedenau, das glaubten viele, zog man einfach nicht. Das war jot weh deh.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/05/10/nachbar-werden/
Büke Schwarz: KOMȘU KOMȘUUU – HUHU, NACHBAR
© Büke Schwarz
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/04/09/komsu-komsuuu-huhu-nachbar/
Edouard Compere: AUS DER ZEIT GEFALLEN?
Foto: Edouard Compere
Wer die zweieinhalb Kilometer vom Molkenmarkt hinter dem Roten Rathaus bis zum Potsdamer Platz zu Fuß geht, wird sich wahrscheinlich wünschen, lieber mit dem Taxi gefahren zu sein: Die sechsspurige Leipziger Straße lädt keinesfalls zum Flanieren ein. Jedoch würde die schnelle Autofahrt eine ganze Reihe interessanter, zum Teil merkwürdiger Begegnungen verhindern.
An der Friedrichsgracht hat ein freundlicher Riese in der Nachmittagssonne den Arm zum Gruß erhoben, als würde er die Enten unten im Wasser willkommen heißen. Etwas weiter im Westen, am Fuß der Hochhäuser an der Leipziger Straße, wird unser Blick von einem Lichtspiel aus Bögen, Wellen, Kreisen und Kurven gefangen. Ist es überhaupt möglich, dass die 25 Geschosse der Hochhäuser auf dieser hellen, wolkigen Unterlage stehen können? Auf der anderen Straßenseite wird diese statische Meisterleistung nicht wiederholt. Verirrt man sich jedoch in den Hinterhof, wo der ununterbrochene Autoverkehr zur leisen Geräuschkulisse wird, trifft man plötzlich auf einen zwischen den Bäumen sitzenden nackten jungen Mann. Tief in Gedanken versunken blickt er in die Ferne, in der linken Hand hält er einen Apfel.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/03/26/aus-der-zeit-gefallen/
Tobias Wilke: WÖRTER IN NACHBARSCHAFT: AVENIDAS AUF DEM WEG DURCH BERLIN
Foto: Tobias Wilke
1.
Mietgebäude der Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte
Kyritzer Straße 82, Hellersdorf
Im Februar 2019 brachte die Hellersdorfer Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte das Gedicht avenidas von Eugen Gomringer an der Fassade eines ihrer Gebäude in der Kyritzer Straße an. In schwarzen Lettern aus Metall wurde der Text in zwei Versionen – spanisch und deutsch – auf die weiße Außenwand des fünfgeschossigen Wohnblocks montiert. Gut sichtbar für alle, die diesen Ort zu Fuß oder auf Rädern passieren – und gut sichtbar nicht nur bei Tageslicht, sondern auch nachts, wenn sich die Buchstaben, von ihrer Rückseite her illuminiert, in einen beleuchteten Schriftzug verwandeln. Was oben am Haus geschrieben steht, soll so zu jeder Zeit lesbar bleiben: ein Signal dafür, dass das Gedicht nunmehr »untrennbar mit Hellersdorf verbunden« sei, wie die Genossenschaft in einem Schreiben zur Fertigstellung der Installation erklärte. avenidas, 24/7.
Die Online-Anthologie des Projekts Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur widmet sich den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen nachbarschaftlicher Beziehungen und Zusammenhänge. Mit Blick auf den Berliner Stadtraum und auf aktuelle soziale Fragen, aber zugleich offen für ein weiteres Verständnis von Nachbarschaften versammelt die Anthologie Beiträge aus Literatur und Wissenschaft und verknüpft sie hypertextuell. Die Leserinnen und Leser können individuell entscheiden, ob sie ihre Lektüre zum Beispiel mit einer bestimmten Autorin oder an einem bestimmten Ort beginnen möchten. Über Verlinkungen lassen sich vielfältige Verbindungen zwischen den Texten und lesend neue Nachbarschaften entdecken. Die Berliner Kieze sind gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt aller Texte. Die Sammlung wird laufend ergänzt.
Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur