Patrick Eiden-Offe: VERRUFENES HISTORISIEREN
In Das Elend der Philosophie seziert Marx das Vorgehen der »bürgerlichen« Ökonomen in wenigen Sätzen:
»Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. [...]«
Demnach basiert das bürgerliche Verfahren der Historisierung auf einem System von Entgegensetzungen: Das Künstliche und Erfundene steht dem Natürlichen und Naturgegebenen gegenüber, das Zeitliche und Veränderliche dem Ewigen und Unveränderlichen. Die Grundannahme, dass alles Menschliche historisch wandelbar ist und deshalb wissenschaftlich historisiert werden muss – das historische Apriori des 19. Jahrhunderts, das zum Historismus führen wird –, basiert auf einer scharfen Markierung der Grenzen von Historisierung. Und diese Grenzen sind politisch motiviert, sie präsentieren sich aber (vielleicht wie alle Grenzen) als natürliche und unwandelbare. Für die von Marx kritisierte Ideologie des Historischen ist die Gegenwart als End- und Zielpunkt der Geschichte dieser gerade nicht unterworfen, sondern erscheint ins Überzeitlich-Ewige entrückt. Das Bestehende sichert sich dadurch ab, dass alles Vergangene historisch eingeordnet wird als Hinführung zur Gegenwart.
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Patrick Hohlweck: ZEITMASCHINEN – Tangerine Dream in Berlin, 1980
Ende Januar 1980 machte sich die Westberliner Band Tangerine Dream auf in den Ostteil der Stadt. Ihr Ziel war der Palast der Republik, in dessen Großem Saal sie im Rahmen der Jugendkonzerte des Radiosenders DT 64 auftreten sollte: gleich zweimal – so meldete es der Spiegel im Vorfeld – vor insgesamt 5.800 Zuhörern. Es sollte der erste Auftritt einer westdeutschen Rockgruppe in der DDR werden, noch zweieinhalb Jahre vor Udo Lindenbergs vielbeachtetem, von langem Werben vorbereitetem Konzert in Ostberlin. Die nach 1990 etablierte Erzählung dieser Episode der Popgeschichte lautet folgendermaßen: Die futuristischen Klänge Tangerine Dreams und die von ihnen vorgeführten technischen Möglichkeiten hätten die Zuschauer so sehr beeindruckt, dass einige von ihnen in der Folge selbst die Flucht aus dem realsozialistischen Alltag mittels elektronischer Musik erprobten. Das Konzert sei so zur Initialzündung einer Reihe von zum Teil kurios anmutenden Electronic Escapes from the Deutsche Demokratische Republik geworden.
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ÜBER KUNST, WISSENSCHAFT UND DAS ENDE DER NATUR. Judith Elisabeth Weiss im Gespräch mit Regine Rapp und Christian de Lutz von Art Laboratory Berlin
Die Natur steckt in einer doppelten Krise: Die ökologische Forschung sagt ihr angesichts des menschengemachten Klimawandels und des dramatischen Artensterbens düstere Aussichten voraus. Gleichzeitig stimmen gegenwärtige Theoriediskurse den Abgesang auf die Natur an, indem sie gängige philosophisch und politisch untermauerte Natur-/Kultur-Konzepte aufkündigen. Mit dem Schlagwort vom ›Ende der Natur‹ ist die Forderung verbunden, Natur nicht mehr als das Andere der Kultur zu begreifen, das es qua Verfügungsgewalt zu beherrschen gilt. Jean-Jacques Rousseau befand schon im 18. Jahrhundert, dass der Mensch die Natur verlassen habe und es keinen Weg zurück gebe, die Wirkungen eines ursprünglichen Naturzustandes aber noch spürbar seien. Die aktuellen Diskurse radikalisieren diese Ansicht und versuchen den Begriff der Natur durch neue Wortprägungen zu ersetzen. Diese sollen die Verwicklungen des Menschen deutlich machen, indem sie die Trennlinie zwischen Natur und Kultur aufheben.
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Claude Haas: DONALD TRUMP ALIAS MACBETH? Zu Stephen Greenblatts neuem Shakespeare-Buch
Nicht dass der Name Donald Trump in Stephen Greenblatts neuem und immerhin bereits fünften Buch über Shakespeare auch nur ein einziges Mal fallen würde. Es trägt den Untertitel »Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert« und gefällt sich in seitenlangen Anspielungen wie dieser:
»Er [Richard III.] ist ein pathologischer Narzisst und in höchstem Maße arrogant. Er verfügt über eine groteske Anspruchshaltung und hat nie einen Zweifel daran, dass er tun kann, was er will. Er brüllt gern Befehle und sieht, wie seine Untergebenen sie hastig ausführen. Er erwartet unbedingte Loyalität, ist aber unfähig zur Dankbarkeit. Die Gefühle anderer bedeuten ihm nichts. Er hat keinen natürlichen Anstand, keine Vorstellung von Mitmenschlichkeit, kein Schamgefühl.[…]«
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Lutz Greisiger: STRASSENKÄMPFE, LICHTBILDER, FOXTROTT. Zur Ausstellung »Berlin in der Revolution 1918/19: Fotografie, Film, Unterhaltungskultur«
2018/19 jähren sich zum hundertsten Mal die epochalen Ereignisse, die als Novemberrevolution und Spartakusaufstand in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegangen sind. Die Stadt Berlin, Hauptschauplatz der damaligen Vorgänge, begeht das Jubiläum mit einem »Themenwinter«, offenbar bestrebt, deren historischem Gewicht gerecht zu werden (bzw. es für das Stadtmarketing zu mobilisieren): »Über 250 Ausstellungen und Veranstaltungen« werden aufgeboten und im Podewil in der Klosterstraße gar ein »Revolutionszentrum« betrieben. Die zum Jahrestag der doppelten Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht am 9. November eröffnete Ausstellung im Museum für Fotografie nimmt die Ereignisse zwischen November 1918 und Mai/Juni 1919 aus verschiedenen Richtungen in den Blick und befasst sich neben der Dokumentarfotografie mit dem Kino und der Unterhaltungskultur, mit Operette, Revue, Kabarett und Tanz.
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Der ZfL BLOG ist 2017 aus dem Arbeitskreis Bloggen in den Geisteswissenschaften am ZfL hervorgegangen. Die Rubrik AD HOC reagiert auf aktuelle Debatten; EINBLICK versammelt Beiträge aus laufenden Forschungsprojekten; LEKTÜREN liefern genau das; SAG MAL! präsentiert die Menschen, die hinter der Forschung stecken. Außerdem enthält der Blog Beiträge zu unseren JAHRESTHEMEN. Die Beiträge des Blogs, die in unregelmäßigen Abständen erscheinen (ca. 30 pro Jahr) stammen vor allem von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des ZfL, aber auch von Gästen und Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland. Die meisten der Beiträge sind auf Deutsch, einige auf Englisch verfasst.