ZfL INFO 40/2018: Neue Beiträge im ZfL BLOG
Jutta Müller-Tamm: ORDNUNG DES DIVERSEN. Typeneinteilungen um 1900
Mit einiger Berechtigung könnte man das 19. Jahrhundert nicht nur als Jahrhundert nationaler Einheitstendenzen, sondern auch als Jahrhundert der Diversität beschreiben: einerseits der biologischen Diversität, insofern die Anzahl der bekannten Arten exponentiell zunimmt und die Evolutionslehre den Naturprozess selbst als Entstehung organischer Diversität bestimmt, andererseits aber auch als Jahrhundert der kulturellen und sozialen Diversifizierung: Unübersehbarkeit des empirischen Wissens, Differenzierung der Disziplinen, Vervielfältigung der kulturellen Tendenzen, Pluralisierung der Lebensformen und Weltanschauungen, die – mit Nietzsches Formulierung – »unkräftige Vielseitigkeit des modernen Lebens«, all das gehört jedenfalls zu den gängigen Selbstbeschreibungen der Zeit. Dabei taucht Diversität in den Gegenwartsdiagnosen um 1900 weniger als Wert oder gar Forderung auf, sondern vor allem als krisenhaft oder ambivalent wahrgenommenes Phänomen:
Zaal Andronikashvili: GEORGISCHE LITERATUR HEUTE. Zwischen ›kleiner Literatur‹ und ›Weltliteratur‹
2018 ist Georgien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Zum ersten Mal nach der Wende wird die georgische Literatur damit prominent in einer fremden Sprache präsentiert. Gerade die Literaturen kleiner Nationen sind auf internationale Anerkennung dieser Art besonders angewiesen. Doch gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen Literaturen ›kleiner‹ und ›großer Nationen‹? Diese Frage ist im Spannungsfeld zweier Konzepte zu diskutieren, die mit dem der Nationalliteratur als lange dominierendem Ordnungsprinzip literarischer Texte konkurrieren: kleine Literatur und Weltliteratur.
Falko Schmieder: REINHART KOSELLECK UND DIE BEGRIFFSGESCHICHTE DES 20. JAHRHUNDERTS. Ein Tagungsbericht
Die Tagung »Reinhart Koselleck und die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts« am Deutschen Literaturarchiv Marbach (14./15.6.2018) reiht sich ein in eine Kette von Veranstaltungen, die dem Werk Reinhart Kosellecks und den Perspektiven der begriffsgeschichtlichen Forschung speziell im Hinblick auf das 20. Jahrhundert gewidmet sind. Mit ihr feierte die Gesellschaft der American Friends of Marbach ihr zehntes Jubiläum. Wie der Gastgeber Ulrich Raulff (Marbach) bei der Eröffnung betonte, ist das Literaturarchiv Marbach ein besonderer Ort für die Begriffsgeschichte, da es die Nachlässe bedeutender Vertreter oder Stichwortgeber wie Hans Blumenberg, Hans-Georg Gadamer, Hans Robert Jauß, Joachim Ritter oder Dolf Sternberger aufbewahrt. Im Jahre 2008 wurden der schriftliche Nachlass sowie die Bibliothek von Reinhart Koselleck angekauft, kürzlich kam dann auch der Nachlass von Karlheinz Barck, dem Mitherausgeber des Wörterbuchs der Ästhetischen Grundbegriffe (und ehemaligen Kollegen am ZfL) hinzu. Das Literaturarchiv Marbach beherbergt damit eine Fülle von Materialien, die bislang noch kaum erschlossen sind und die für die leitende Fragestellung einer Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Forschungsquelle bilden.
Georg Toepfer: VERZAUBERUNG DER WELT DURCH NACHDICHTUNG DER NATURWISSENSCHAFT? Zu Raoul Schrotts »Erste Erde. Epos«
»There is grandeur in this view of life«, so beginnt der letzte Satz von Charles Darwins On the Origin of Species. In der ersten Auflage verzichtete Darwin noch auf einen Bezug zu Gott. Ab der zweiten Auflage von 1860 fügte er ihn dann allerdings doch ein (»several powers, having been originally breathed by the Creator into a few forms or into one«). Großartig und erhaben ist die Ansicht aber doch vielleicht gerade ohne Gott. Darauf jedenfalls scheint Raoul Schrotts Erste Erde Epos hinauszulaufen. Es ist eine von den Naturwissenschaften beeindruckte Erzählung, die diese nicht als nüchtern und seelenlos inszeniert, sondern die Bedeutsamkeit naturwissenschaftlichen Wissens für uns feiert, indem sie neue Formen und sprachliche Bilder für dieses Wissens sucht. Das Ergebnis ist eine eigene dichterische Verzauberung der Welt durch naturwissenschaftliches Wissen und zugleich eine Verzauberung der Naturwissenschaften. Reenchanting Science, Wiederverzauberung der Naturwissenschaft – auf diese Formel ließe sich das Programm Schrotts bringen.
David Kaldewey: »In the Name of Diversity«: ZUR NEUFORMIERUNG STUDENTISCHEN PROTESTS AN AMERIKANISCHEN UNIVERSITÄTEN
Diversität scheint auf den ersten Blick ein wenig umstrittener gesellschaftlicher Wert zu sein. Die jüngeren Entwicklungen in der politischen Landschaft der USA haben in den letzten Jahren jedoch gezeigt, dass ›Diversität‹ als hochgradig umkämpfter Begriff verstanden werden muss. Einen Tag nach der Wahl von Donald Trump am 8. November 2016 kursierte an der Texas State University folgender Flyer:
Diese triumphierende Geste von Studierenden, die sich vom linksliberalen Konsens der amerikanischen Colleges und Universitäten distanzieren, macht die Spannung sichtbar zwischen einem im universitären Raum seit den 1990er Jahren stabilisierten identitätspolitischen Diskurs, für den Diversität und Multikulturalismus zentrale Werte sind, und einer alten sowie neuen Rechten, die sich, durchaus genussvoll, gegen die etablierte Political Correctness und angebliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit wendet.
Stefan Willer: DIE KUNST DES NACHWORTS. (Ein Nachtrag zu »Schalamow. Lektüren«)
Das kürzlich erschienene Büchlein Schalamow. Lektüren versammelt die Vorträge eines Kolloquiums zum Werk des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow (1907–1982), das im Mai 2016 am ZfL stattfand. Unmittelbarer Anlass war damals der 65. Geburtstag von Franziska Thun-Hohenstein. Sie hat selbst zahlreiche Lektüren seiner Texte vorgelegt – nicht zuletzt in Gestalt der Nachworte in den mittlerweile sieben Bänden der Schalamow-Werkausgabe, deren Herausgeberin sie ist. Auch wenn der zweite Band kein Nachwort enthält und das Nachwort zum dritten von Michail Ryklin stammt, sind es doch Thun-Hohensteins Nachworte, die die Werke in Einzelbänden in besonderer Weise prägen.