ZfL INFO 68/2021: Bücher im Gespräch – Episode 5: Chor
Bücher im Gespräch
Für »Bücher im Gespräch«, den Podcast des ZfL, unterhalten sich Wissenschaftler*innen über ihre neuen Publikationen.
Episode 5: Chor
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Fluchtpunkt aller europäischen Verhandlungen des Chorischen ist die antike Tragödie mit ihrer Gegenüberstellung von skene und orchestra, von Protagonist und Chor. Während Sebastian Kirsch die antiken Texte durch die Brille des späten Foucault liest, wählt Maria Kuberg einen historisierenden Ansatz und betrachtet den antiken Chor »through our German eyes« (Simon Goldhill). Deutlich wird dabei, dass Aneignungen des Chors nie geradlinig, sondern stets historisch gebrochen verlaufen.
Gemeinsam ist beiden Ansätzen das Anliegen, den Irrtum auszuräumen, dass der Chor in einer dualistischen Ordnung dem Protagonisten gegenübersteht. Er muss vielmehr als Kippfigur zwischen Figuration und Defiguration begriffen werden, in antiken Begriffen als Vertreter des Kosmos, der vor der Reduktion auf die Sphären von Oikos und Polis selbstverständlicher Teil der griechischen Welt war.
In verschiedenen Formen des Chorischen können somit unterschiedliche Formen der Gemeinschaft mit ihren Ein- und Ausschlüssen sowie Totalisierungsgefahren durchexerziert werden. Ebenso erlauben sie es, weltumspannende Phänomene wie Klimakrise, Flüchtlingszüge und Pandemie zu verhandeln, die sich nicht in den binären Oppositionen von Lokalem und Globalem oder Eigenem und Fremdem verstehen lassen.
In den von Maria Kuberg untersuchten Theatertexten zeigt sich, dass der Chor aufs Engste mit der Theorie verbunden ist, deren nichtanschaulichen Inhalten er Sichtbarkeit verleihen kann. Nicht zufällig gehen die Krise der Anschauungslogiken und die emphatische Wiederentdeckung des Chors an der Wende zum 20. Jahrhundert miteinander einher. Chor und Anschauung hängen aber noch auf andere Weise miteinander zusammen. Durch Rückgriff auf somatische Konzepte des Denkens zeigt Sebastian Kirsch, was sie mit den Sorgeschulen der Kyniker, Epikureer und Stoiker gemein haben und warum wir uns diese eher als chorische Philosophiebanden vorstellen sollten denn als strenge Akademien.
Diese Neuverortung des Chors mag nicht zuletzt dazu beitragen, dessen Prominenz im postdramatischen Theater besser zu verstehen, das insbesondere nach dem Verblassen bestimmter Utopien von Gemeinschaft nach 1989 das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem, Individuum und Gesellschaft verhandelt.
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Abb. oben: © Dirk Naguschewski
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