ZfL INFO 36/2022: Neue Texte in der Anthologie »Nachbarschaften«
NEUE TEXTE IN DER ANTHOLOGIE »NACHBARSCHAFTEN«
- Paul Bokowski über Eigenbedarf (14.4.2022)
- Maki Schimizu im Überlebenskampf auf dem Berliner Wohnungsmarkt (4.2.2022)
- David Wagner übers Arbeiten im Freiluftbüro (21.1.2022)
Paul Bokowski: VIER WÄNDE
Foto: Paul Bokowski
Die erste Wand war dünn. Sie hat nicht viel gesehen. Weil es so finster war. Man hat vom Fenster in den Hof geschaut. Nicht in den ersten oder zweiten. Sondern hinten raus. In den Hof zwischen den Häusern. Auf das Hinterhaus von irgendeiner Mietskaserne. Ich weiß bis heute nicht, auf welches Haus ich da eigentlich geschaut habe. Kameruner oder Togostraße. Auf welche Nummer, welchen Aufgang. Die Häuser hier sind alle merkwürdig gewachsen. Vom Rand mäandernd ins Karree hinein. Wo die letzten Triebe aufeinander treffen, da habe ich raus- und reingeschaut.
»Gartenhaus«, hat der Mann von der Verwaltung mir erzählt. Aber Gärten hat es nicht gegeben. Es war erst Mitte Mai, aber er hat schon geschwitzt wie im August. Nur Brache gab es vor dem Fenster. Drei Bäume, die miteinander fremdeln. Er hat den Mietvertrag auf meinem Rücken machen wollen. Aber ich bin immer ausgewichen und habe mir irgendwas beschaut.
http://zfl-nachbarschaften.org/2022/04/14/vier-waende/
Maki Shimizo: SURVIVE
© Maki Shimizu
http://zfl-nachbarschaften.org/2022/02/04/survive/
David Wagner: DAS FREILUFTBÜRO
Foto: David Wagner
»Warum räumst du nicht mal auf«, fragt Isabelle, die mich heute im Freiluftbüro besucht. Sie zeigt auf den Müll unter dem Tisch und um die fest verankerten Hocker in der halb überwucherten, fast zur Laube gewordenen Nische der Grünanlage am Vinetaplatz, Gesundbrunnen, Berlin-Wedding.
Rund um die Sitzgruppe liegen flachgetretene Capri-Sonne-Aluverpackungen, transparente Plastikbecher, leere Haribo-Tüten, ein Pizzakarton und zwei runde Alu-Essenschalen. Ich sehe eine OP-Maske, eine leere Großpackung Marlboro, Zigarettenkippen und Zigaretten, aus denen der Tabak herausgepuhlt wurde. Und ohne ganz genau hinzusehen auch zwei Grastütchen, leer, eine Wassereisverpackung, zwei unbenutzte blaue Müllbeutel, eine weiße Plastikflasche ohne Aufdruck und eine aufgerissene Tüte Chio-Chips, Geschmacksrichtung Paprika.
»Mir gefällt die Müllidylle«, antworte ich. »Mit all dem Müll wird es nie zu gemütlich. Der Müll erinnert an die Gegenwart. Daran, dass wir in der Wirklichkeit sitzen.«
»Traurige Gegenwart«, sagt Isabelle.
http://zfl-nachbarschaften.org/2022/01/21/das-freiluftbuero/
Die Online-Anthologie des Projekts Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur widmet sich den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen nachbarschaftlicher Beziehungen und Zusammenhänge. Mit Blick auf den Berliner Stadtraum und auf aktuelle soziale Fragen, aber zugleich offen für ein weiteres Verständnis von Nachbarschaften versammelt die Anthologie Beiträge aus Literatur und Wissenschaft und verknüpft sie hypertextuell. Die Leserinnen und Leser können individuell entscheiden, ob sie ihre Lektüre zum Beispiel mit einer bestimmten Autorin oder an einem bestimmten Ort beginnen möchten. Über Verlinkungen lassen sich vielfältige Verbindungen zwischen den Texten und lesend neue Nachbarschaften entdecken. Die Berliner Kieze sind gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt aller Texte. Die Sammlung wird laufend ergänzt.
Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur