ZfL INFO 58/2021: Neue Texte in der Anthologie »Nachbarschaften«
NEUE TEXTE IN DER ANTHOLOGIE »NACHBARSCHAFTEN«
- Donna Stonecipher schwelgt in Prenzlauer Berger Altbau-Nostalgie (27.8.2021)
- Jayrôme C. Robinet streift durch queere Nachbarschaften (20.8.2021)
- Mirna Funk versucht die Erinnerung an Ost-Berlin (13.8.2021)
Donna Stonecipher: THE RUINS OF NOSTALGIA 63
Foto: Donna Stonecipher
It was the last unrenovated building in Prenzlauer Berg, and all who came to inspect its weathering tiers fell (inwardly) to their knees in veneration. When she lay on her bed she could feel everything she’d used to look so ardently forward to fall behind her like old-growth redwoods thundering to the forest floor as the tree-huggers were escorted out of the woods in handcuffs on the back of a logging truck, supine like the lumber. Who in that primordial darkness would have feared the gentle two-by-four? Looking at all the smoothly serene façades to either side of the last unrenovated building in Prenzlauer Berg, she wanted to understand the ruinousness of renovation, she wanted to interpellate the romance of ruins, study it, take apart its ethics and its aesthetics and put it back together again with one segment of the egg-and-dart cornice upside down. She wanted the caryatids to crumple over. She wanted people to be decently housed, but she also wanted to cause irreparable damage to narratives of progress washing over the city with their pale blue saline reminiscence of forgetfulness. She wanted to hug the last unrenovated building in Prenzlauer Berg until she was led away by handcuffs. She wanted to hug everything she did not want to disappear that would disappear, until she was led away by handcuffs. She lay on her bed, staring, no longer astonished, into the ruins of nostalgia.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/08/27/the-ruins-of-nostalgia-63/
Jayrôme C. Robinet: SIE VERLASSEN DEN HETERONORMATIVEN SEKTOR
Foto: Jayrôme C. Robinet
Liebe Kilou,
manche Menschen fragen sich, was ihre Katze eigentlich den ganzen Tag macht.
Erwischt! Du schläfst die meiste Zeit.
Soll ich Dir mal erzählen, was ich so treibe? (Zumindest, wenn ich die Wohnung verlasse, sonst weißt Du ja, wie ich dasitze oder liege.)
Okay. Zuerst muss ich Dir erklären, was queer ist.
Weißt Du, draußen gibt es Häuser aus Duft und aus Licht.
Wir leben in einem Bezirk, der nach warmem Kaffee riecht.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/08/20/sie-verlassen-den-heteronormativen-sektor/
Mirna Funk: UM DEN HALS EINE GANZE GESCHICHTE
Wir stiegen die Stufen hinunter. Orangefarbene Kacheln an den Wänden. Ein dumpfer Geruch. Ein lautes Scheppern des einfahrenden Zuges. Meine kleine Hand in deiner großen Hand. Mein Kopf an deinen Rücken gelehnt. Immer diese komische Angst in meinem Bauch. Vor dir. Vor mir. Vor uns.
Ich weiß nicht genau, wie alt ich war. Vielleicht fünf. Vielleicht sechs. Niemals sieben, weil da warst du schon weg und niemals vier, weil da warst du noch da gewesen.
Wir setzten uns auf eine braun angestrichene Holzbank und warteten auf den nächsten Zug. Wohin wir wollten, erinnere ich nicht. Woher wir kamen, auch nicht. Aber die Möglichkeiten waren nicht endlos. In diesen Jahren. 1986 oder 1987. Ost-Berlin. Alles beige. Monochrom. Die Häuser, die Straßen, die Menschen, die Kleidung. Ein Beige-Verlauf. Von hell zu dunkel und wieder zurück. Bloß keine starken Farben, bloß kein lautes Wort, bloß kein Aus-der-Reihe-Tanzen. Die Telefone knackten und dann wusste man, es gibt einen Zuhörer mehr, oder zwei oder drei. Die Einschusslöcher in den Häuserwänden. Am Ende eine Patronenhülse. Die Toiletten auf dem Gang. Die Duschen in der Küche. Die Ofenheizungen, die nachts die Kraft verließ und einen frierend aufwachen ließen. Sowieso, Kälte. Kälte, wohin man fühlte. Kaltes Wasser. Kalte Luft. Kalte Stimmen. Und dann dazwischen ein Hauch von frisch gewachstem Linoleum.
http://zfl-nachbarschaften.org/2021/08/13/um-den-hals-eine-ganze-geschichte/
Die Online-Anthologie des Projekts Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur widmet sich den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen nachbarschaftlicher Beziehungen und Zusammenhänge. Mit Blick auf den Berliner Stadtraum und auf aktuelle soziale Fragen, aber zugleich offen für ein weiteres Verständnis von Nachbarschaften versammelt die Anthologie Beiträge aus Literatur und Wissenschaft und verknüpft sie hypertextuell. Die Leserinnen und Leser können individuell entscheiden, ob sie ihre Lektüre zum Beispiel mit einer bestimmten Autorin oder an einem bestimmten Ort beginnen möchten. Über Verlinkungen lassen sich vielfältige Verbindungen zwischen den Texten und lesend neue Nachbarschaften entdecken. Die Berliner Kieze sind gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt aller Texte. Die Sammlung wird laufend ergänzt.
Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur