ZfL INFO 77/2022: Neue Texte in der Anthologie »Nachbarschaften«
NEUE TEXTE IN DER ANTHOLOGIE »NACHBARSCHAFTEN«
- Philipp Schönthaler über kalifornische Garagen und Kreuzberger Wohnzimmer (26.8.2022)
- Nina Weller über ukrainisch-belarussische Solidarität (12.8.2022)
- Magdalena Schrefel über ihre Arbeitsräume (5.8.2022)
- AG Minimales Reisen über den U-Bahnhof Bernauer Straße (29.7.2022)
Philipp Schönthaler: ZUSES WOHNZIMMER
Foto: Philipp Schönthaler
Letztes Jahr war ich mit einem Aufenthaltsstipendium in einer Villa in Pacific Palisades. Schon vor der Abreise aus Berlin hatte ich einer Freundin, die ich von meinem Bachelorstudium in den Nullerjahren in Seattle her kannte, gemailt. Obwohl wir uns in den letzten 20 Jahren nur sporadisch gesehen hatten, war der Kontakt nie abgerissen. Ich wusste, dass Chester on und off in der Bay Area lebte. Lange hielt sie es nie aus, dennoch war sie bisher immer wieder dorthin zurückgekehrt. »Vielleicht bin ich einfach noch nicht fertig mit diesem Ort«, schrieb sie in ihrer Antwortmail. »Oder der Ort ist noch nicht fertig mit mir.« Anstelle eines Punktes hatte sie ihren Satz mit einem Frowning Face, auf das ein Smiley folgte, beendet.
http://zfl-nachbarschaften.org/2022/08/26/zuses-wohnzimmer/
Nina Weller: ALLES ANDERS
Foto: Nina Weller
1. Berlin Ostbahnhof
Ein Abend im Januar 2022. Kurz hinter der Schillingbrücke, die vom Ostbahnhof nach Kreuzberg führt, fällt mir ein junger Mann auf, der mit Rollkoffer unschlüssig an der Kreuzung steht. Er spricht die Vorübereilenden auf Englisch an, ob sie ein paar Euro entbehren können, er habe zu wenig Geld für die Übernachtung im Hostel. Ich bleibe stehen und komme mit ihm ins Gespräch. Schnell wechseln wir ins Russische: Er ist aus Belarus, erst heute in Berlin angekommen.
P. war Grenzsoldat. Auf längerfristige Absicherung hoffend hatte er sich vor einigen Jahren für den Armeedienst verpflichtet, als ausgebildeter Hundetrainer reichte das Geld nicht. Die für das belarussische System der staatlichen Sicherheitsorgane üblichen ideologischen Indoktrinationen und strengen Hierarchien, mit unbedingtem Loyalitätsanspruch, nahm er in Kauf. Doch dann wurde er an die belarussisch-polnische Grenze versetzt, wo seit Monaten tausende Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak und anderen Ländern unter unmenschlichen Bedingungen festsitzen, vergessen von Europa, eingeklemmt zwischen zwei Nachbarregierungen, die auf ihren Rücken skrupellos ihre Interessenskonflikte austragen. Von Lukaschenkas falschen Versprechungen, dass die EU von dort sicher zu erreichen sei, nach Belarus gelockt, werden die Migrant:innen von belarussischen Grenzbeamten immer wieder zu illegalen Grenzübertritten gedrängt oder gar gezwungen, worauf die polnische Seite mit brutalen Pushbacks reagiert. Die EU schaut dabei zu. Einer dieser Grenzschützer war P. Was er in den Wäldern zwischen Belarus und Polen erlebt habe, könne ich mir gar nicht vorstellen. Die Menschen sterben an Erschöpfung nach der langen Flucht, an Kälte, Hunger, Durst und an der Gewalt. Und das nur, weil sie aus dem ›falschen‹ Land kommen. Als seine Vorgesetzten ihm befahlen, seinen Hund auf die wehrlosen Menschen zu hetzen, beschloss P., seinen Dienst zu quittieren und das Risiko der heimlichen Ausreise einzugehen. Deserteure werden in Belarus hart bestraft. Nun steht er hier in der Nähe des Ostbahnhofs, ohne seinen geliebten Hund, ohne Job oder Geld.
Seine Geschichte anonym zu publizieren will er sich überlegen, die Vermittlung an Netzwerke, über die er bürokratische Unterstützung und Rechtsbeistand bekommen könnte, lehnt er ab, zu groß ist die Angst, in eine Falle zu tappen, auch hier. Die Ampel schaltet zum x‑ten Mal wieder auf grün. Wir verabschieden uns. Er geht Richtung Hostel. Seinen erschütternden Bericht, seine Tränen und seine Angst nehme ich mit auf meinem Weg zum Kottbusser Tor.
http://zfl-nachbarschaften.org/2022/08/12/alles-anders/
Magdalena Schrefel: SELBSTPORTRÄT DER AUTORIN IN IHREN ARBEITSZIMMERN
Foto: Magdalena Schrefel
Eins: Eingang
Ich biege in meine Straße ein, da ist das Varietétheater, der Tattooladen, der vor Kurzem den Betreiber gewechselt hat, nicht mehr Hafen, sondern Parlour heißt er jetzt; da ist die Paartherapeutin im ehemaligen Schmuckladen, der bis 2017 ein anarchistischer Infoladen war; als er geräumt wurde, stand ich auf dem Balkon und habe zugesehen. Ich war gerade erst im Nebenhaus eingezogen.
An der Haustür bleibe ich stehen, nestle in der Jackentasche nach dem Schlüssel, schließe auf, gehe die Treppen hinauf, bis ich im vierten Stock bin. Schließe die Wohnungstür hinter mir, nehme den Rucksack ab, schlüpfe aus den Schuhen und ziehe auch noch die Socken aus. Dann gehe ich in die Küche und lege die Einkäufe in den Kühlschrank.
Und dann öffne ich die Tür zu meiner Kammer.
http://zfl-nachbarschaften.org/2022/08/05/selbstportraet-der-autorin-in-ihren-arbeitszimmern/
AG Minimales Reisen: PARALLELPROTOKOLL 03052215391600
Foto: AG Minimales Reisen
15:39
A
Mit der Maske rieche ich gar nicht den spezifischen Duft des U‑Bahnhofs, meines U‑Bahnhofs. Neben uns nölt ein müdes Kleinkind: »Duu-duu!«
B
»Na Mensch, drei Minuten. Da brauch ich ja gar nicht lange warten«, sagt ein Mann, der hinter uns langgeht. Er schnattert mit einem anderen Mann, der eine höhere Stimme hat als er selbst. Neben uns spielt eine Mama mit ihrem Kind im Kinderwagen. Man kann nicht ganz sagen, ob die Laute, die das Kind ausstößt, Lachen oder Weinen sind.
C
Ein Kind weint und jammert in der Nähe. Bernauer Straße. Gelbe quadratische Fliesen. Hmmh, circa 40x40cm an der Wand? Kein schönes Gelb. Es gibt tatsächlich sehr viel schönere U‑Bahn-Stationen in Berlin als diese.
D
»Na, Mensch. Timing. Drei Minuten«, sagt jemand. Ein Kind quengelt: »Tutut.« Viel Stimmengemurmel. Was will das Kind wohl? Die Mutter zählt, das Kind wirkt glücklicher.
E
Wir sitzen auf Plätzen, die tatsächlich zum Sitzen vorgesehen sind. Das hatten wir auch noch nicht oft: Sitzgelegenheit als Schreibgelegenheit. Eine junge Frau geht neben mir in die Hocke und versucht ihr Kleinkind im Kinderwagen zu amüsieren – mit wechselndem Erfolg. Kichern geht immer wieder in Quengeln über.
http://zfl-nachbarschaften.org/2022/07/29/parallelprotokoll-03052215391600/
Die Online-Anthologie des Projekts Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur widmet sich den unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen nachbarschaftlicher Beziehungen und Zusammenhänge. Mit Blick auf den Berliner Stadtraum und auf aktuelle soziale Fragen, aber zugleich offen für ein weiteres Verständnis von Nachbarschaften versammelt die Anthologie Beiträge aus Literatur und Wissenschaft und verknüpft sie hypertextuell. Die Leserinnen und Leser können individuell entscheiden, ob sie ihre Lektüre zum Beispiel mit einer bestimmten Autorin oder an einem bestimmten Ort beginnen möchten. Über Verlinkungen lassen sich vielfältige Verbindungen zwischen den Texten und lesend neue Nachbarschaften entdecken. Die Berliner Kieze sind gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt aller Texte. Die Sammlung wird laufend ergänzt.
Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur