»Die Unfähigkeit zu trauern« – Ambivalenz und Aktualität. 50 Jahre danach
Veröffentlichter Beitrag zur Veranstaltung:
Daniel Weidner: »Die Unfähigkeit zu trauern« – Geschichte einer Abwehr?, in: ZfL Blog. Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Berlin vom 14.11.2017
In Kooperation von RWTH Aachen und Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin
Alexander und Margarete Mitscherlichs 1967 erschienenes Buch Die Unfähigkeit zu trauern ist ein Klassiker der Diskussion über die deutsche Vergangenheitsbewältigung. Wie so oft heißt das auch, dass der Text – und sein Titel zumal – zwar oft erwähnt, aber umso seltener gelesen wurde. Blickt man heute erneut in das Buch, ist man überrascht, dass der Titel weniger die versäumte Trauer um die Opfer des Nationalsozialismus meint als die ausgebliebene Trauer über den Verlust des narzisstisch besetzten Führers und der eigenen Größenphantasien. Die Abwehr dieser Trauer, so die zentrale These des Textes, habe die nationalsozialistische Vergangenheit bereits unmittelbar nach dem Krieg eigenartig »irreal« erscheinen lassen sowie die »Gefühlsstarre« und den »psychosozialen Immobilismus« hervorgerufen, der den Mitscherlichs zufolge die Nachkriegsgesellschaft charakterisiere.
Das verbreitete Missverständnis des Titels verweist nicht nur auf den historischen Abstand, der uns von dem Text trennt. Es stellt auch die Frage, ob das von ihm aufgeworfene Problem möglicherweise ebenfalls eher missverstanden oder vergessen worden ist, als dass es wirklich eine Lösung gefunden hat. Für die Mitscherlichs wäre jene - abgewehrte - Trauer um den eigenen Verlust eine Vorbedingung gewesen, um die »moralische Pflicht« der Trauer um die Opfer überhaupt leisten zu können. Heute, fünfzig Jahre später, scheinen die Opfer im Zentrum der Erinnerung zu stehen – bedeutet dies, dass die Derealisierung damit aufgehoben ist? Oder neigt auch und gerade die jüngere Erinnerung dazu, den ambivalenten Momenten der Erinnerung auszuweichen? Gibt es heute eine »Opferidentifizierung«, und wenn ja, soll man sie als Akt historischer Gerechtigkeit oder als psychische Übersprungshandlung beschreiben, die von einer Verbindung zur Tätergemeinschaft nichts mehr wissen will? Oder sollte das jüngere Interesse an deutschen Opfern –des Luftkriegs, der zweiten Generation – es nun umgekehrt ermöglichen, nach Anerkennung der Opfer nun auch die Trauer um eigene Verluste zu vollziehen?
Die Tagung soll durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text zum einen auf dessen Historisierung zielen und das Buch im Rahmen seiner Entstehungszeit und im Zusammenhang der verschiedenen Stadien seiner Rezeptionsgeschichte betrachten. Zum anderen sollen die sachlichen Fragen, die der Text einmal aufgeworfen hat, diskutiert werden: die Kritik an der Vergangenheitsbewältigung, die Zeitkritik der Wohlstandsgesellschaft, die Möglichkeit des gesellschaftlichen Nutzens der Psychoanalyse und vieles andere. Die Tagung fragt damit auch nach dem anhaltenden Irritationspotential, das der Text möglicherweise hat: Historisierung bedeutet hier auch, am Buch der Mitscherlichs unser Bild der Vergangenheit zu überprüfen.
Programm
Donnerstag, 30.11.2017
13.30–15.00
Stephan Braese (RWTH Aachen), Daniel Weidner (ZfL): Einführung
Tobias Freimüller (Fritz Bauer Institut Frankfurt a.M.): Alexander Mitscherlich, der Nationalsozialismus und die Entstehungsgeschichte der »Unfähigkeit zu trauern«
15.30–17.30
Dagmar Herzog (City University of New York): Die Politik der Aggression und die Rückkehr der Psychoanalyse nach Deutschland. Alexander Mitscherlich in der Auseinandersetzung mit Konrad Lorenz
Werner Konitzer (Europa-Universität Viadrina Frankfurt O.): Die »Unfähigkeit zu trauern« und die Frage nach der nationalsozialistischen Moral
18.00
Wolfgang Hegener (HU Berlin): Im »Hohlraum der Rede« (Adorno) oder warum der Antisemitismus in »Die Unfähigkeit zu trauern« fehlt
19.00
Roundtable: »Die Diagnose gilt noch«. Margarete Mitscherlichs Relektüre der »Unfähigkeit zu trauern« 1987
Freitag, 01.12.2017
Der ursprünglich angekündigte Vortrag von
Patrick Eiden-Offe (ZfL): Für eine ›Massenpsychologie ohne Ressentiment‹. Mitscherlichs immanente Kritik einer Forschungstradition
mus leider ausfallen.
Dadurch verschiebt sich die Anfangszeit am Freitagmorgen wie folgt:
10.30–11.30
Micha Brumlik (Berlin): Vaterlosigkeit: nach 1945 – aber auch: nach 1918. Über eine Leerstelle im Werk Mitscherlichs
12.00–13.00
Alfred Bodenheimer (Universität Basel): Die Fähigkeit zu lachen. Jüdischer Humor ohne Juden in der deutschen Nachkriegsgesellschaft
14.00–16.00
Claude Haas (ZfL): Trauer als Trost? Die Mitscherlich-These und der Kriegsroman nach '45
Nicolas Berg (Simon-Dubnow-Institut Leipzig): »Das Buch meines Lebens«. Ralph Giordano liest »Die Unfähigkeit zu trauern«
16.30–18.30
Christian Schneider (Universität Kassel): »Die Unfähigkeit zu trauern« – Diagnose oder Parole?
Abb.: Margarete und Alexander Mitscherlich, © Photoarchiv des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt a.M.