Verzweigungen
Program
ZwischenRäume ist eine Veranstaltungsreihe, die dem Austausch und der Zusammenarbeit folgender Institutionen dient:
Bauhaus Universität Weimar (Fakultät Medien)
Freie Universität Berlin (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für deutsche Literatur)
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
Zentrum für Literatur- und Kulturforschung
"Wie
Knospen durch Wachsthum neue Knospen hervorbringen und, wie auch diese
wieder, wenn sie kräftig sind, sich nach allen Seiten ausbreiten und
viele schwächere Zweige überwachsen, so ist es, wie ich glaube, durch
Zeugung mit dem grossen Baume des Lebens ergangen, der mit seinen todten
und abgebrochenen Ästen die Erdrinde erfüllt, und mit seinen herrlichen
und sich noch immer weiter theilenden Verzweigungen [ramifications] ihre Oberfläche bekleidet." Darwin zeigt sich versöhnlich. In der Zusammenfassung des 4. Kapitels von Origin of Species
greift er eben jenes Bild wieder auf, das er nur wenige Seiten zuvor
durch sein berühmtes Schema der Evolution konterkariert hatte: das des
"grossen Baumes", mit dem die Verwandtschaften zwischen den Lebewesen
einer Klasse traditionellerweise dargestellt werden. Darwin sagt sogar:
"Ich glaube, dieses Bild entspricht sehr der Wahrheit", und macht damit
fast unkenntlich, wie sehr er sich zu diesem Zeitpunkt schon vom
Baumbild entfernt hatte – einerseits, indem er es insgeheim gegen das
natürliche Bild der Koralle austauschte, andererseits dadurch, dass er
vielfältige graphische Anregungen aus den Tafeln, Karten und Diagrammen
der naturgeschichtlichen und entwicklungsbiologischen Literatur seiner
Zeit verarbeitete.
Möglicherweise ist es der versöhnliche Ton
dieser Zusammenfassung, der die Rede von den Verzweigungen bis in die
Gegenwart prominent gemacht hat, möglicherweise aber auch die schiere
Mächtigkeit eines Bildes, das schon lange vor Darwin dazu diente,
Pflanzen, Blutgefäße, Nervenstränge und Flussverläufe zu beschreiben.
Nicht nur Biologie und Medizin sprechen von Verzweigungen, sondern auch
Soziologie, Mathematik und Informatik sowie – nicht zuletzt – die
Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. Tatsächlich erweist sich
diese diskursive Figur auf dem Terrain einer Wissens- und
Wissenschaftsgeschichte als einschlägig, die sich im Zeichen der
"Netzwerke" (einem ebenfalls biologisch konnotierten Begriff) vom
linearen Empirismus Carnaps ebenso abzusetzen versucht wie von den
diskontinuierlichen Paradigmen Kuhns. In seiner Einleitung zu den Elementen einer Geschichte der Wissenschaften
erklärt Michel Serres in diesem Sinn: "Weit davon entfernt, eine
geradlinige Abfolge stetigen Wissenserwerbs oder eine ebensolche Sequenz
plötzlicher Einschnitte, Entdeckungen, Erfindungen oder Revolutionen zu
zeichnen, die eine Vergangenheit plötzlich umwälzen und in
Vergessenheit stürzen, eilt die Geschichte der Wissenschaften
unbeständig durch ein vielfältiges und komplexes Netz von Wegen,
Straßen, Bahnen, Spuren, die sich verflechten, verdichten, kreuzen,
verknoten, überlagern, oft mehrfach verzweigen [bifurquent]."
Die
Verzweigungen, denen eine solche Geschichte nachgeht, sind nicht nur
die der wissenschaftlichen Schulen und Disziplinen, der Begriffe und der
Theorien. Ebenso wenig spürt sie allein den Verzweigungen von einzelnen
Experimentalsystemen, Maschinen oder anderen "Dingen" der Forschung
nach. Wovon diese Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zuerst und vor
allem handelt, sind die Tribunale, die Gerichtshöfe und die
Versammlungen, die die Verzweigungen zwischen "reiner" und "angewandter
Wissenschaft", zwischen Wissenschaft und Technik sowie zwischen
wissenschaftlichen Praktiken und Kriegs- bzw. Industrieforschung
etablieren und sanktionieren: "Orte der Konvergenz und der Verzweigung" (Serres).
So
perspektivenreich und polemisch nun diese Art von Geschichtsschreibung
ist, sie muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht auch selber
das Resultat einer Verzweigung ist – möglicherweise sogar jener bifurcation of nature,
die von Alfred N. Whitehead so überzeugend angeprangert wurde: hier die
Natur, da die Erkenntnis. Zumindest bei Serres tritt der Bezug auf das
biologische Bild des Baumes zugunsten verkehrswissenschaftlicher und
mathematischer Referenzen vollständig in den Hintergrund. Nicht von ramifications, sondern von bifurcations
ist die Rede. Wäre dies der Effekt einer Verzweigung zwischen einer
genuin historisch und einer explizit evolutionstheoretisch
argumentierenden Wissens- und Wissenschaftsgeschichte? Und wenn ja, wo
und wann hat sie sich ereignet? Könnte es sich heute nicht vielleicht
lohnen, die biologische Figur der Verzweigung wieder aufzunehmen – um
sie in weitere Problemfelder einzubringen (die Verzweigungen des
Narrativen z.B.), aber auch um ihren weniger prominenten Aspekten neue
Aufmerksamkeit zu schenken (beispielsweise dem von Darwin
herausgestellten Sachverhalt, dass neue Knospen schwächere Zweige
"überwachsen" oder sein bildsprengender Hinweis auf die "todten und
abgebrochenen Äste")? Solchen und ähnlichen Fragen werden die
ZwischenRäume 15 gewidmet sein.
Programm
14:00
Begrüßung
Joseph Vogl und Henning Schmidgen
Verzweigungen. Die Schrift im psychiatrischen Klassifikationssystem um 1900
Yvonne Wübben (FU Berlin)
Instability, Potentiality, Novelty. Hölderlin's Poetics of Bifurcation
Gabriel Trop (HU Berlin)
16:30
Gaston Bachelard und Logischer Empirismus um 1930. Revision wissenschaftsphilosophischer Abgrenzungen
Sandra Pravica (MPIWG)
Das Geäst des Nationalen. Überlegungen zu einer politischen Kommunikologie gegenwärtiger Massenmedien
Zoran Terzic (ZfL)